Abschied von Chautauqua
rüberschaute.
«Du musst mir zuhören, Kumpel», sagte Ken sanft, doch Sam war eingeschnappt und sagte kein Wort, so wie Ken es immer tat, wenn sich Lise mit ihm streiten wollte. Er kommt wirklich nach meinem Vater, dachte Ken und sah dessen gelassenes Gesicht am Esstisch vor sich. Der war immer als Letzter fertig gewesen, obwohl er kaum etwas sagte. Er schien in Zeitlupe zu essen, seine Gabel nach jedem Bissen hinzulegen. Einmal hatte Ken versucht, länger zu brauchen als er, was nur dazu führte, dass seine Mutter ihn ausschimpfte. Er wusste, dass sein Vater bloß höflich war, dass er in einem Haus aufgewachsen war, wo es als gierig galt, nach dem Essen zu greifen, als unhöflich, die Mahlzeit hinunterzuschlingen. In seiner Sanftmütigkeit schien sein Vater geradezu die Verkörperung guter Manieren zu sein. Ken hatte nie erlebt, dass sich sein Vater ernsthaft über etwas beklagt hatte, weder über Vietnam noch über Nixon, übers Finanzamt oder auch nur seine Gesundheit am Ende, als wäre zenähnliche Gelassenheit ein Beweis seiner Klugheit. Aber auf ein Kind konnte seine Selbstbeherrschung wie eine Illusion wirken, wie das übliche Beharren der Erwachsenen auf Unfehlbarkeit. Jahrelang hatte Ken ihn für rückständig gehalten, hatte gedacht, er sei nicht mehr auf dem Laufenden, doch später fand er die Gelassenheit seines Vaters vollkommen, sein Schweigen nicht leer, sondern würdevoll. Ken wurde immer noch nicht aus ihm schlau.
«Kann ich bitte mit meinem Game Boy spielen?», fragte Sam.
Er hatte schon weit länger als eine Stunde gespielt, aber Ken hatte keine Lust auf eine weitere Auseinandersetzung.
«Bis wir zu Hause sind, aber das war's dann für heute.»
«Okay.»
Der Game Boy ging mit einem elektronischen Piepen an, und Ken sagte unwillkürlich: «Lautstärke.» Er fuhr, Sam neben ihm, über den kleinen Bildschirm gebeugt, unerreichbar.
Der Vater in dem Film war genauso gewesen, er ging so in seiner Arbeit im Vergnügungspark auf, dass er von Paris und den Erlebnissen der Kinder gar nichts mitbekam. Der Film war typisch, dachte Ken, er machte den Kindern weis, dass ihre Eltern egoistisch seien und sie etwas Besseres verdient hatten - disneyfizierte Schuldgefühle, an die er sich aus den Filmen, mit denen er aufgewachsen war, nicht erinnern konnte.
Sein Vater wäre nicht allein mit ihnen ins Kino gegangen. Vielleicht an einem Samstagabend ins Autokino, mit der ganzen Familie, und seine Mutter hatte zu Hause Popcorn gemacht, das sie in einer Keksdose mitnahmen. Er stellte sich seinen Vater am Lenkrad vor, ein Lichtkörnchen in seiner Brille gefangen, ein verschwommenes Bild auf der Leinwand. Ken war vor zehn Jahren am Autokino vorbeigefahren, und schon damals war es von Unkraut überwuchert gewesen, der Zaun rundherum eingestürzt. Inzwischen gehörte es angeblich zu einem Einkaufszentrum, das Feld der Lautsprechermasten abgeerntet und zugepflastert. Es war wie das Putt-Putt, ein weiteres verlorenes Zeugnis seiner imaginären glücklichen Kindheit. Diese Zeit war erstarrt, Geschichte geworden, und doch konnte er sich Gespräche beim Abendessen ins Gedächtnis rufen, bei denen Meg von ihrem Platz aufgesprungen und nach oben gelaufen war, wo sie ihre Tür zugeknallt hatte, während sich ihre Serviette auf dem Kartoffelbrei entknüllte.
«Weißt du, was mit ihr los ist?», hatte sein Vater gefragt, als hätte er keine Ahnung - als würde es eine Antwort geben -, und dann war seine Mutter aufgestanden (nachdem sie kurz gezögert und gewartet hatte, ob er es tun würde), hatte die Serviette von Megs Teller genommen und war steif durchs Wohnzimmer zur Treppe und dann langsam nach oben gegangen. Meg war kein einziges Mal wieder runtergekommen, das Ganze hatte sich in ein stummes Ritual verwandelt, jedes Mal schneller, weniger unangenehm. Die Lösung hatte darin bestanden, Meg ins Internat zu schicken. Danach waren ihre Abendessen ungestört verlaufen.
Er käme nie auf den Gedanken, Ella oder Sam wegzuschicken - als wäre er deshalb ein besserer Vater. Er kannte seine eigenen Fehler zu gut, um andere zu kritisieren oder sich auch nur mit ihnen zu vergleichen. Er ärgerte sich über den Film, weil ihn die plumpe Moralbotschaft veranlasste, sein kompliziertes Leben zu überdenken, ihm aber keine wirkliche Hilfe bot. Er brauchte keine Tracy Ann Caler, um zu wissen, wie kostbar seine Kinder waren.
Sie überquerten die Anhöhe, von der man auf die Brücke
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