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Abschied von Chautauqua

Titel: Abschied von Chautauqua Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stewart O'Nan
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plaudern und lachend vor ihren vollen Tellern sitzen, froh, einen Tag in der Stadt zu verbringen.
     
     
* 8
     
    Sarah saß neben Ella und sah sich den Film an, die Arme über dem Bauch verschränkt, als wollte sie sich warm halten. Das von der Leinwand zurückgeworfene Licht leuchtete auf ihrem Hals und ihren Lippen, ein Pünktchen auf ihrer Nasenspitze, ein heller Fleck auf der breiten Stirn. Ella sah, wie Sarah atmete, wie sich die Streifen ihrer Bluse leicht hoben, die verschiedenen Blaus im Dunkeln schwarzweiß, und als Sarah nach ihren Reese's Cups griff, kam alles in Bewegung, und Ella tat so, als wäre sie davon fasziniert, wie Drew Barrymore mit einem Leuchter einen langen Flur entlangging.
      Sarah hielt ihr die orange Schachtel hin, doch Ella winkte ab. Sie lehnten sich wieder zurück, fläzten sich an die Armlehnen. Sarah führte das Reese's Cup zum Mund und knabberte daran, wobei ihre Zähne zu sehen waren, wie sie ein gerilltes Stück Schokolade abbissen, und plötzlich dachte Ella, sie bräuchte sich bloß rüberzubeugen und sie zu küssen.
      Das wäre das Ende, dachte sie. Sarah würde sie wegstoßen, sie anspucken, nie mehr mit ihr sprechen.
      Sie konnte ihre Hand wie zufällig auf Sarahs Hand fallen lassen. Sie konnte sagen, sie wolle bloß ein Reese's Cup haben, und Sarah würde ihr glauben.
      Sie konnte kaum glauben, dass Sarah noch nicht Bescheid wusste. Seit gestern Abend spürte Ella, wie ihr Geheimnis bei jedem Gespräch in ihren Wangen glühte. Am Morgen hatten sie sich gemeinsam angezogen, und Ella hatte sich im letzten Moment abgewandt, nicht aus Sittsamkeit, sondern aus Angst, der Anblick könnte sie überwältigen. Sie musste aufpassen, wo ihr Blick hinfiel und wie sie dastand, wenn Sarah im Zimmer war. Sie waren die ganze Zeit unter sich, und Ella dachte, sie würde das nicht mehr lange aushalten. Es wäre leichter, wenn sie ihr einfach aus dem Weg gehen könnte, aber dazu würde es nicht kommen.
      Sie war verloren, ihr Schicksal besiegelt wie das der Königin in ihrem Buch, die mitten im Wald im Turmzimmer ihres Schlosses auf den ihr bestimmten Mörder wartete, nur dass Ella auch noch der Mörder und die Wahrsagerin war. Sarah war ihre Cousine, sie war hinreißend, während Ella ein Trampel war. In der Schule schrieb niemand heimlich ihre Initialen auf die Schutzumschläge seiner Bücher und schwärzte sie dann wieder ein, niemand warf ihr im Laborraum verstohlene Blicke zu. Es schaute sie nicht mal jemand an. Und Sarah war verliebt in Dan oder Dave oder wie er auch heißen mochte.
      Alle großen Lieben sind unerfüllt, dachte sie. Da war Ginevra - aber sie war bestraft worden.
      Es war grundfalsch, nichts daran war richtig, doch den ganzen Tag und all die Stunden, in denen sie wach lag, war es das Einzige, woran sie denken konnte. Jedes Lied im Radio drehte sich um sie, auch Ellas Buch, sogar dieser idiotische Film. Sie konnte nicht aufhören, selbst wenn sie es gewollt hätte.
      Sie wollte nicht, dass Sarah sie hasste. Davor hatte sie Angst. Wenn sie es nicht gestand, würde das auch nicht passieren. Sie konnte den ganzen Tag und die ganze Nacht bei ihr sein, konnte direkt neben ihr schlafen. Sie konnte sich Sarahs Geheimnisse anhören und ihre Freundin sein, ihre trottelige Cousine. Manchmal glaubte sie, das wäre genug, aber das stimmte nicht. Sie wünschte sich, Sarah wäre so hilflos in sie verliebt, wie sie es in Sarah war. Am liebsten hätte sie sie in den Hals gebissen wie ein Vampir und die Abdrücke ihrer Zähne hinterlassen wie ein Zeichen. Du gehörst mir, hätte sie am liebsten gesagt.
      Neben ihr knabberte Sarah wieder an ihrem Reese's Cup, und einen Augenblick glitzerten ihre Schneidezähne feucht. Ella verstand nicht, wie sie so langsam essen konnte. Sie hatte bei weitem nicht so viel Geduld. Wie die meisten Leute schob sie sich das ganze Ding einfach in den Mund.
     
     
* 9
     
    Der Lärm aus dem Anbau der Smiths erinnerte Emily daran, wie Henry im Keller gearbeitet und sie beim Kreischen der Tischsäge am Hackbrett gestanden hatte. Jede seiner Maschinen hatte ihren eigenen Klang gehabt. Wenn sie am Herd gestanden hatte, konnte sie ihn anhand des dröhnenden Bandschleifers, der brummenden Fräsmaschine oder der wackelnden Drehbank unter ihren Füßen orten. «Das Abendessen ist fertig», hatte sie dann während einer Pause die Treppe hinuntergerufen, und er hatte unten am Waschbecken die Hände geschrubbt und war heraufgekommen, hatte nach

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