Abschied von der Küchenpsychologie
differenzieren, gehen offenbar von dieser naiven Vorstellung aus. Sie trifft zwar zu, wenn man sich z.B. den Anblick einer Landschaft, eines Gebäudes oder Gemäldes einprägt, oder aber eine Melodie, den Wortlaut einer Mitteilung oder den Klang einer Stimme. Doch der viel größere Teil des schulischen und akademischen Lernens ist völlig anderer Natur und weit von Sehen, Hören oder Anfassen entfernt: Zu lernen ist etwas Gedankliches, nämlich
Bedeutungen, Sinngehalte, Aussagen
! Ist denn eine grammatische Regel etwas Visuelles, Auditives, Haptisches? Ist eine Prozentrechnung etwas Visuelles, Auditives, Haptisches? Ist der Handlungsstrang einer Novelle etwas Visuelles, Auditives, Haptisches?
Die Beispiele zeigen: Die eigentlichen Lerninhalte sind meist weder visuell noch auditiv und schon gar nicht haptisch. Mit Hilfe akustischer oder optischer Zeichen wird lediglich etwas übermittelt, aber dieses Etwas, den Sinngehalt, muss man
entnehmen
. Oft kann man das Gehörte oder Gelesene
sinngemäß
wiedergeben, ohne sich noch an den Wortlaut erinnern zu können. Nur Lernende, die nichts verstehen, versuchen vielleicht, den Wortlaut auswendig zu lernen. (Mehr zum verstehenden Lernen in Kapitel 12.1 über Wissenserwerb.)
Das heißt also: Allenfalls bei der «Oberfläche» des Lernstoffs ist der Eingangskanal relevant, ansonsten ist es meist unwichtig, ob man etwas gehört oder gelesen hat – entscheidend ist in jedem Fall die
gedankliche
V
erarbeitung
. Man wird dieselben Nachrichten aufnehmen und behalten – eben weil die gelesenen und die gehörten Sätze dasselbe
bedeuten
(s. Tafel). Die «Theorie» hinter den Lerntypenkonzepten verwechselt also die sensorische Aufnahme mit der kognitiven Verarbeitung – die ist von ganz anderer Art und auf die kommt es an. Für diese Verarbeitung ist übrigens das vom Lernenden mitgebrachte Vorwissen die entscheidende Grundlage: Er muss die akustischen und optischen Zeichen kennen (= Beherrschung der jeweiligen Sprache, Lesefertigkeit) und auch inhaltliches Vorwissen mitbringen, um eine Aussage überhaupt zu verstehen.
Viel wichtiger als der Eingangskanal ist die
Art des Symbolsystems
, etwa Schriftzeichen oder Bilder (Fotos, Zeichnungen). Obwohl man beides mit den Augen sieht (= gleicher Eingangskanal), werden sie ganz unterschiedlich verarbeitet. Das Bild bietet wirklich visuelle Informationen, die auch visuell, also wahrnehmungsanalog, gespeichert werden können. Die Schriftzeichen hingegen enthalten Bedeutungen, und die kann man entnehmen. Ebenso gehen gesprochene Sprache wie auch Musik (Töne, Klänge, Rhythmen) zwar gleichermaßen durch die Ohren, werden aber unterschiedlich verarbeitet und gespeichert. Dass verschiedene Symbolsysteme sich in der Praxis gegenseitig ergänzen und stützen können, z.B. ein Text und eine Grafik, ist eine andere Sache.
Praktische Konsequenzen
Selbst wenn es die Lernertypen gäbe, wäre völlig unklar, was für Konsequenzen man daraus ziehen könnte. Sollte z.B. ein «auditiver Typ» Texte und Bilder meiden und versuchen, immer Vorträge zu hören? Hat er denn diese Wahl? Gewöhnlich muss man doch die Lernquellen, ob Bücher oder Seminare, so nehmen, wie sie kommen. Und soll der arme haptische Typ vielleicht gar in Blindenschrift lernen? Für das persönliche Lernverhalten, vor allem für die Nutzung von Lernstrategien, kann eine «Lerntypdiagnose» sogar schädlich sein. Denn wer z.B. glaubt: «Ich bin ein auditiver Typ», wird vielleicht auf eine Grafik verzichten, obwohl sie durchaus hilfreich wäre.
Die Forschung weist hier in eine ganz andere Richtung. Statt zu fragen: Für
wen
ist dieser Lernweg gut?, wäre zu fragen: Für welche
Aufgabe
bzw. für welches
Lernziel
ist dieser Lernweg gut? Wenn man z.B. lernen soll, wie bestimmte Urwaldvögel
aussehen
, ist ein Foto oder ein Film besser als ein Text oder Vortrag. Wenn man aber verstehen soll, welche
Funktionen
der Regenwald für das Weltklima hat, wäre ein Vortrag, ein Text oder eine schematische Darstellung sicher viel informativer als Bilder.
Selbst Vokabeln erfordern differenzierte Wege: ( 1 ) Um zu wissen, wie man das englische Wort «sophisticated»
ausspricht
, muss man es hören, ( 2 ) um zu lernen, wie man es korrekt
schreibt
, ist das Lesen der schnellste Weg. Und wenn man ( 3 ) die
Bedeutung
erlernen soll, hilft weder das eine noch das andere – dann braucht man Übersetzungen, Umschreibungen oder Beispielsätze.
Fazit:
Jeder Mensch sollte für erfolgreiches Lernen
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