Abschied von der Küchenpsychologie
Lernstoff durch Sinneskanäle zu verstehen ist, und ob manche Menschen z.B. besser durch den Sehkanal und andere besser durch den Hörkanal lernen. Zwei weitere Themen befassen sich mit der Reichweite von Lernwirkungen: mit dem sog. Transfer. Eine lange Tradition hat die Annahme, dass bestimmte Fächer eine allgemeine Denkschulung mit sich bringen. Dies ist der Ausgangspunkt für die Frage: Welcher Transfer ist tatsächlich möglich und welcher nicht? Auch das sog. Gehirnjogging verspricht eine breite Wirkung auf die geistige Leistungsfähigkeit. Was kann man tatsächlich für die geistige Fitness tun? Was kann man insbesondere älteren Menschen empfehlen? Anschließend geht es um den Erfolg von Schulunterricht: Wie wichtig ist die Klassengröße und wie wichtig das Lehrerverhalten? Und zum Schluss folgt ein Erziehungsthema, das die Schule und das Elterhaus gleichermaßen betrifft: die Disziplin. Alle fünf Themen werden von fragwürdigen populären Annahmen her aufgerollt.
11.1 «Bist du ein visueller oder auditiver Lerntyp?»
«Das war wie ein Schock für mich», gab ein Student im Seminar offen zu, «Sie haben mir eine jahrelange Gewissheit genommen» – und ähnlich empfanden es auch andere in der Runde. Was hatte ich getan? Nachdem eine Studentin erwähnt hatte, sie arbeite gerne mit Tabellen, weil sie ein «visueller Lerntyp» sei, und andere ergänzten, sie hätten in einem Kurs gelernt, dass «auditive Lerntypen» unter den Schülern Vokabeln durch Zuhören lernen sollten, da griff ich dieses Thema auf und setzte zur Verunsicherung an: «Sie werden kein Buch der wissenschaftlichen Psychologie finden, in dem solche Konzepte vertreten werden; wenn sie überhaupt erwähnt werden, dann allenfalls kritisch.»
Menschen in Typen einzuteilen, war schon immer beliebt, und seit einigen Jahrzehnten ist, wenn es um erfolgreiches Lernen geht, die Unterscheidung von Lerntypen (korrekter: Lernertypen) ausgesprochen populär. Wer hat nicht schon gehört, es gebe visuelle, auditive und haptische Typen, die bevorzugt durch Sehen bzw. durch Hören bzw. durch Anfassen lernen könnten. Fast jeder Lernratgeber erwähnt derartige Typen und liefert zuweilen auch gleich einen Test zur Selbstdiagnose mit. Was hingegen regelmäßig fehlt, ist der Verweis auf eine wissenschaftliche Quelle! Offenbar hat sich die Typologie wie eine Wandersage verbreitet, und weil man nun überall auf sie stößt, muss sie doch «wahr» sein. Oder etwa nicht?
Wie viele und welche Typen?
Das erste Problem ist schon die uneinheitliche Einteilung. Je nach Autor sieht die Typenliste anders aus. Neben den drei Typen, die sich direkt auf Sinneskanäle beziehen (auditiv, visuell und haptisch oder taktil), stößt man unter anderem auf den Lesetyp, den intellektuellen Typ, den verbal-abstrakten Typ, den motorischen Typ, den Handlungstyp, den Erfahrungstyp, den Gesprächstyp oder den Gefühls- und Bewegungstyp. Die Überschneidungen und Abgrenzungen sind dabei mangels präziser Definitionen oft kaum zu klären. Offenkundig werden die Unterscheidungen ziemlich willkürlich getroffen; es handelt sich um erfundene, nicht um gefundene Typen.
In der Forschung sind alle Versuche fehlgeschlagen, die Existenz solcher Lernertypen nachzuweisen. Nicole Becker, die vergeblich nach neurowissenschaftlichen Belegen gesucht hat, nennt die Typen «Hirngespinste». Auch an den realen Lernleistungen kann man sie nicht festmachen. Wenn der Begriff des Typs einen Sinn haben soll, dann müssten manche Menschen ziemlich durchgängig bei Sehaufgaben, andere bei Höraufgaben besser abschneiden. Ebendas hat man aber nicht gefunden. Auch standen in einer neueren Untersuchung von Krätzig und Arbuthnott die Leistungen im Behalten von Zeichnungen (visuell), von Einzelheiten einer vorgelesenen Geschichte (auditiv) sowie von Holzfiguren (haptisch) in keinerlei Zusammenhang mit dem angeblichen Lerntyp, für den sich die Personen selbst hielten oder der ihnen in einem Lerntyp-Fragebogen bescheinigt worden war. Die «visuellen Typen» lernten also visuelle Aufgaben nicht besser als die «auditiven Typen» usw.
Man kann das Konzept auch nicht retten, indem man zugesteht, dass natürlich die meisten Menschen Mischtypen seien. Denn das heißt ja nichts anderes, als dass es wirkliche Typen nicht gibt. Natürlich besitzen manche Menschen spezielle Fähigkeiten und können z.B. besonders gut Bilder oder besonders gut Melodien behalten. Nur darf man dies nicht auf sämtliche Aufgaben
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