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Abschied von der Küchenpsychologie

Abschied von der Küchenpsychologie

Titel: Abschied von der Küchenpsychologie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans-Peter Nolting
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Ludwig Haag und Elsbeth Stern ( 2000 ) prüfte speziell die Wirkung von Latein, und zwar auf formale Denkfähigkeiten und auf muttersprachliche Kompetenzen. Verglichen wurden Schüler/innen, die im Gymnasium entweder Englisch oder Latein als erste Fremdsprache gewählt hatten. Die beiden Schülerstichproben unterschieden sich nicht bezüglich ihrer allgemeinen Intelligenz. Ergebnis: Nach vier Jahren ließen sich nur geringe Unterschiede feststellen. Die Gruppen unterschieden sich nicht in Bezug auf Intelligenzleistungen wie logisches Denken und räumliche Vorstellung. Auch für die Muttersprache Deutsch gab es keine Unterschiede beim
inhalts
getreuen Lesen und im Erkennen stilistischer Unterschiede.
    Geringfügig besser waren die Lateiner lediglich beim «
buchstaben
getreuen Lesen», nämlich im Erkennen von kleinen grammatischen und orthographischen Fehlern (sozusagen «Korrekturlesen») sowie im Konstruieren langer, komplexer Sätze aus mehreren kurzen Sätzen. Diese Effekte führen die Autoren darauf zurück, dass man im Lateinischen auf jeden Endungsbuchstaben achten muss und dass man beim schrittweisen Übersetzen lateinischer Sätze häufig komplexe deutsche Sätze bildet. Abgesehen davon, dass auch diese spezifischen Effekte nur schwach waren, stellt sich natürlich die Frage, ob buchstabengetreues Lesen und das Bilden von Schachtelsätzen wünschenswerte Kompetenzen sind, und falls ja, ob dies nicht auch in wenigen Stunden durch ein direktes Training zu erreichen wäre.
    Die Ergebnisse sind typisch für die gesamte Transferforschung: Das Lernen an bestimmten Lernstoffen verbessert die Leistungen bei eben diesen Lernstoffen, aber es schult nicht allgemeine Fähigkeiten. Dies gilt nicht nur für alte Sprachen, es gilt genauso für
jedes
andere Fach!! Wer Latein lernt, lernt Latein und nicht logisches Denken; wer Mathematik lernt, lernt Mathematik und nicht analytische Fähigkeiten; wer Biologie lernt, lernt Biologie und nicht Beobachtungsfähigkeit. Es ist sogar möglich, dass ein Mensch in einem Fach wie Mathe oder Physik durch und durch rational zu denken lernt und zugleich irrationale Vorurteile oder religiösen Fanatismus pflegt.
    Selbst
innerhalb
eines Faches bleibt der Transfer meist spezifischer als erhofft. Wer das Übersetzen von fremdsprachigen Texten übt, wird sich dadurch kaum im freien Sprechen verbessern. Wer Goethe interpretiert, wird dadurch nicht selbst zum Meister schöner Sprache. Doch der «Mythos vom Transfer» ist trotz der Gegenbeweise nicht totzukriegen, klagen Gage und Berliner.
    Spezifischer Transfer: immer möglich, nicht immer erwünscht
    Die Befunde besagen mit anderen Worten: Man trainiert nicht Denkleistungen per se, sondern nur im jeweiligen Wissenskontext. Menschen verbessern ihr Denken bei Sachverhalten, mit denen sie vertraut geworden sind. Wer gelernt hat, an mathematische Aufgaben logisch heranzugehen, zieht dadurch nicht auch bei lateinischen Sätzen die richtigen Schlüsse und umgekehrt. Dasselbe gilt für andere Kompetenzen. Wer systematisch das Verhalten von Waldtieren beobachtet, wird sich genau hierin verbessern, aber nicht auch in der Beobachtung einer Eltern-Kind-Interaktion. Für eine Psychologin in der Erziehungsberatungsstelle gilt umgekehrt das Gleiche. Denn auch die Beobachtungskompetenz – «einen Blick haben» für etwas – beruht stark auf dem Vorwissen, das man in die Beobachtungssituation mitbringt. Das heißt also: Es gibt einen spezifischen Transfer – einen Transfer auf ähnliche Aufgaben. Und solch einen Transfer gibt es überall.
    Wissen Sie, was das Wort prälutativ bedeutet? Nein? Ich vermute, ein bisschen wissen Sie doch: Hat es etwas mit ‹nah› oder ‹fern›, mit ‹vor› oder ‹nach› zu tun? Wenn Sie sich für prä = vor entschieden haben, wäre das ein Beispiel für einen spezifischen Transfer (das Wort selbst habe ich mir ausgedacht). Ähnlich geht es mit Vor- oder Nachsilben wie ‹post›, ‹tele›, ‹trans›, ‹phil› etc. Beim Lernen der englischen Sprache hilft es uns häufig, dass wir bereits ähnliche deutsche Wörter kennen: Buch – book, Lampe – lamp, Haare – hair, Ich habe – I have. Das Multiplizieren lernen wir, weil wir bereits addieren können. Und beim Lösen von Gleichungen mit zwei Unbekannten greifen wir auf eine beachtliche Vorgeschichte zurück. All das heißt: In unserem lebenslangen Lernen stecken unendlich viele spezifische Transfereffekte.
    Leider sind es nicht immer erwünschte Effekte.

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