Abschied von der Küchenpsychologie
Der Transfer der deutschen Wörter ‹wo› und ‹wer› auf die englischen ‹who› und ‹where› oder des deutschen ‹Selbstbewusstsein› auf das englische ‹self-consciousness› kommt fast von selbst – doch handelt es sich hier um «false friends». Im Fachausdruck heißen solche falschen Übertragungen negativer Transfer.
Nach alledem gibt es durchaus einen Transfer von einem Fach zu einem anderen, sofern sie gemeinsame Elemente aufweisen. Kenntnisse in Mathematik helfen naturgemäß beim Lernen von Physik, Kenntnisse in Chemie helfen in der Biologie. Und selbstverständlich hilft Latein beim Lernen von Spanisch – allerdings sicher nicht nur Latein, sondern auch Italienisch oder Französisch, denn auch sie haben Gemeinsamkeiten mit dem Spanischen. Die Lernerleichterung müsste dort besonders groß sein, wo die Gemeinsamkeiten der Sprachen besonders groß sind.
Auch dies untersuchten Haag und Stern ( 2003 ) an einem praktischen Beispiel: Was hilft mehr beim Lernen von Spanisch: Latein oder Französisch? Verglichen wurden fünfzig Teilnehmerinnen eines Spanisch-Anfängerkurses, von denen die Hälfte in der Schule Latein und die Hälfte Französisch gelernt hatte. Am Ende des Kurses hatten sie einen deutschen Text ins Spanische zu übersetzen. Das Ergebnis: Im Wortschatz schnitten beide Gruppen etwa gleich gut ab; die Lateiner machten geringfügig mehr Wortfehler. Aber sie machten wesentlich mehr grammatische Fehler als die Französischgruppe; sie vergaßen z.B. Artikel oder Hilfsverben – typische Beispiele für negativen Transfer vom Lateinischen.
Wie ist das möglich, wo doch gerade Latein als grammatisches Training und überhaupt als ideale Grundlage für andere romanische Sprachen gerühmt wird? Bei näherer Betrachtung ist der Befund leicht erklärbar. Historisch ist Latein zwar eine Wurzel der romanischen Sprachen, doch haben diese sich in einem entscheidenden Punkt vom Lateinischen wegbewegt: So wie etwa Deutsch und Englisch haben sie bestimmte und unbestimmte Artikel, haben Personalpronomen («ich», «wir» …) und gebrauchen Hilfswörter («haben», «sein») in der Zeitenbildung (= analytische Grammatik). Im Lateinischen hingegen steckt all dies in den Endungen (= synthetische Grammatik). Die Beispiele in der Tafel illustrieren, dass einzig Latein abweicht.
Unähnlichkeit erschwert den Transfer – Beispiel lateinische Grammatik
Personalpronomen (in Klammern: verzichtbar)
und Zeitenbildung mit haben/sein
Artikel und Deklinationen
Deutsch:
Ich
bin
gekommen
Der
Name
der
Rose
Englisch:
I
have
come
The
name
of the
rose
Französisch:
Je
suis
venu
Le
nom
de la
rose
Italienisch:
(Io)
sono
venuto/ta
Il
nome
della
rosa
Spanisch:
(Yo)
he
venido
El
nombre
de la
rosa
Lateinisch:
veni
nomen
rosae
Beispiele für negativen Transfer der «Lateiner» im Spanisch-Test
venido
statt
he venido
tràfico problemas
statt
problemas de tràfico
Verglichen mit den anderen Sprachen ist die lateinische Grammatik also ziemlich exotisch. Doch ausgerechnet die Sprache, die den anderen am wenigsten ähnlich ist, genießt den Ruf, beim Erlernen anderer Sprachen besonders wirksamen Transfer zu leisten. Dieser Volksglaube beruht vermutlich auf der Vorstellung: Was in der Sprachgeschichte die Grundlage war, muss auch für das Lernen die beste Grundlage sein. Aber für den Lerntransfer kommt es nicht auf die historische Abfolge an, sondern nur auf die Ähnlichkeiten. Beim Lernen des spanischen arbol (Baum) kann man sich gleichermaßen auf das französische arbre wie auf das lateinische arbor stützen.
Die Beispiele demonstrieren die «Macht» des spezifischen Transfers, des positiven und des negativen. Doch mag man fragen, ob es nicht auch einen abstrakteren Transfer geben kann, ob also z.B. so etwas wie grammatisches Grundverständnis transferiert wird, etwa eine Struktur aus Subjekt-Prädikat-Objekt. In der Tat ist auch das möglich. Man kann
verstandene Prinzipien
aus der Grammatik, der Mathematik, der Physik, der Psychologie etc. auf neue Beispiele übertragen. Solche Einsichten zu vermitteln und dazu anzuleiten, dass man sie in neuen Kontexten wiedererkennt, ist die Absicht eines jeden guten Unterrichts und Lehrbuches (natürlich auch dieses Buches).
Allerdings ändert dies nichts daran, dass wir in der Praxis oft von ganz konkreten Ähnlichkeiten geleitet werden. Das Erlernen einer Fremdsprache wird also nicht vorrangig aufgrund eines abstrakten «grammatischen Bewusstseins» erleichtert, sondern aufgrund
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