Abschied von der Küchenpsychologie
Einstellung nach und nach der Realität ihres Verhaltens anpassen. Wenn z.B. ein junger Lehrer vielleicht aus Hilflosigkeit zu Drohungen und Bestrafungen greift, obwohl dies zunächst seinem pädagogischen Selbstverständnis widerspricht, wird er sich vermutlich nach einiger Zeit sagen: Mein Verhalten ist richtig, es geht eben nur so. Das heißt: Durch sein Handeln verändert sich seine Einstellung.
Auch Reden kann Handeln sein. Wenn man einen Anlass hat, vor anderen eine Position zu vertreten, die nicht der eigenen Überzeugung entspricht, etwa aus reinem Opportunismus oder auch nur im Rollenspiel, dann kann es passieren, dass die eigenen Worte auf die Einstellung zurückwirken, dass man den eigenen Worten «glaubt».
Ähnlich wirkt die Foot-in-the-door-Methode. Wird jemand dazu gebracht, einen kleinen Schritt in eine bestimmte Richtung zu gehen, erhöht das die Wahrscheinlichkeit, dass er künftig auch zu einem größeren Schritt bereit ist. Wären Sie bereit, in Ihrem Garten ein riesiges Schild «Fahr vorsichtig» aufzustellen? Wahrscheinlich nicht. In einem Experiment von Freedman und Fraser waren in einer ersten Stichprobe nur 17 Prozent dazu bereit. In einer zweiten Stichprobe hingegen waren es 76 Prozent. Warum? Bei diesen Personen hatte man zwei Wochen vorher einen Fuß in die Tür bekommen: Man hatte sie nämlich gebeten, ein kleines Schild mit dem Appell «Sei ein sicherer Fahrer» in ihrem Fenster anzubringen. Die erste Handlung hatte eine Einstellung wachgerufen, die dann wiederum die nächste Handlung erleichterte.
So bleibt man mit sich selbst in Einklang. Das Prinzip gilt für prosoziale Handlungen ebenso wie für antisoziale, für eine Steigerung von kleinen zu großen Hilfeleistungen ebenso wie für eine Steigerung von schwachen zu immer schlimmeren Gewaltakten – so wie etwa bei der Judenverfolgung in der Nazizeit oder in Milgrams Gehorsamsexperimenten (s.S. 244 ). Das alles bedeutet: Einstellungen und Verhalten können sich wechselseitig beeinflussen.
Einstellungen: ein Faktor unter vielen
Um zu verstehen, warum Einstellungen keineswegs immer «der» entscheidende Drehknopf für Verhaltensänderungen sind, sollte man bedenken, dass unser Verhalten auch von anderen Faktoren abhängt. Wenn nicht einmal der Charakter alleine das Verhalten bestimmt (s. Kapitel 7.1 ), so gilt das erst recht für eine einzelne Einstellung. Menschen haben ja nicht nur eine, sondern verschiedene Einstellungen, die manchmal auch miteinander konkurrieren; sie haben Fähigkeiten und Fähigkeitsdefizite; sie haben Interessen und Lebensziele; sie sind vielleicht ängstlich, aufbrausend, introvertiert etc. Und zu all diesen Personfaktoren kommen die Kontextfaktoren noch hinzu. Im Ergebnis ist es dann beispielsweise möglich, dass jemand als persönliche Einstellung zwar ein ausgeprägtes Umweltbewusstsein bekundet, aber mit dem Flugzeug in den Urlaub reist und mit dem Auto die Brötchen besorgt.
Oftmals findet man also nur schwache Zusammenhänge zwischen Einstellungen und dem tatsächlichen Verhalten. Jedenfalls gilt dies für allgemeine Einstellungen, etwa zu anderen Völkern, zu gesellschaftlichen Minderheiten, zu Hilfeleistung oder Umweltschutz. Anders ist es, wenn die Einstellung selbst schon auf einen konkreten Kontext bezogen ist: «Man darf Kinder nicht schlagen» (statt: «Man muss friedfertig sein») oder: «Man sollte Ökostrom beziehen» (statt «Man sollte das Klima schützen») – solche spezifischen Einstellungen leiten das konkrete Handeln viel wirksamer als allgemeine.
Nach alledem bleibt übrig: Im Prinzip ist es zwar möglich, durch Informationen und Argumente Einstellungen zu verändern, und eventuell ändert sich dann auch das Verhalten. Aber man kann nicht sagen, dass man zuerst die Einstellung ändern muss.
9.3 «Niemand hat geholfen – da sieht man den Wertezerfall»
Ein Theologiestudent sitzt in einem Raum und macht sich Gedanken über einen Bibeltext. Thema: Der barmherzige Samariter. Seine Überlegungen sollen anschließend in einem Nebengebäude mit dem Recorder aufgezeichnet werden. Auf dem Weg dorthin trifft er auf einen Mann, der völlig zusammengesackt ist, heftig hustet und stöhnt. Was wird der Theologiestudent tun? In einer ersten Serie dieses Experiments von Darley und Batson boten die allermeisten Studenten in irgendeiner Weise Hilfe an. In einer zweiten Serie hingegen liefen fast alle vorbei. Warum? Waren bei diesen Studenten die Werte zerfallen? Die Erklärung war viel
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