Abschied von der Küchenpsychologie
denen passendes Verhalten konkret erläutert und vorgemacht wird?
Zusammenschau: Was geht in helfenden bzw. nicht helfenden Menschen vor?
Die aufgeführten Kontextfaktoren und Personfaktoren machen deutlich: Hilfeleistung ist nicht einfach nur eine Frage von Hinschauen oder Wegschauen. Und ob jemand hinschaut oder wegschaut, bestimmen auch nicht nur die Werte, die ein Mensch für wichtig hält.
Es ist wie bei anderen Handlungen auch: Aus dem Zusammenspiel der jeweiligen Kontextfaktoren und Personfaktoren ergeben sich jene Gedanken, Wahrnehmungen, Emotionen oder Motivationen, die darüber entscheiden, ob Hilfe geleistet oder unterlassen wird. Die folgende Sequenz fasst wichtige innere Prozesse zusammen: Die Situation bemerken → die Situation als Notlage interpretieren → sich verantwortlich fühlen → geeignete Handlungsweisen überlegen und sich dazu für fähig halten → die Handlung planen und ausführen. Weitere Prozesse: «Kosten» der Hilfeleistung akzeptieren, «Gewinn» erwarten (Hilfemotivation).
Der Sozialpsychologe Hans-Werner Bierhoff gibt ein Beispiel, das mehrere Elemente des inneren Ablaufs enthält:
Eine Autofahrerin fährt auf einer Landstraße und bemerkt – oder übersieht –, dass ein Mann am Straßenrand entlanghastet. Wenn sie ihn bemerkt, könnte sie denken: ein Jogger. Hat sie aber kurz zuvor am Fahrbahnrand ein Auto stehen sehen, könnte sie auch schließen: Sein Auto ist defekt, er sucht Hilfe. Interpretiert sie die Situation in dieser Weise, fährt sie vielleicht dennoch weiter, weil sie es eilig hat und sich auf einer belebten Straße befindet, sodass sie denkt: Da wird schon jemand anhalten, der mehr Zeit hat. Oder aber sie fühlt sich persönlich verantwortlich zu helfen. In diesem Fall überlegt sie passende Handlungsweisen: Anhalten und nachfragen, ohne den Autoverkehr zu gefährden.
Unter starkem Zeitdruck, so Bierhoff, wird dieser innere Ablauf abgekürzt werden, sodass eine impulsive Entscheidung herauskommt. Davon abgesehen dürfte aber deutlich werden: An verschiedenen Punkten des inneren Geschehens kann die Weiche auf Helfen oder Unterlassen gestellt werden, und Untätigkeit bedeutet nicht immer, dass man mit der Notlage nichts zu tun haben möchte.
Schon das
Bemerken
der kritischen Situation ist nicht selbstverständlich. Lärm, äußere Ablenkungen oder innere Ablenkungen («ganz in Gedanken sein») können dem entgegenstehen. Weiterhin muss man das Wahrgenommene
als Notlage interpretieren
. Viele Situationen sind aber nicht eindeutig. War z.B. dieser Schrei ein Notschrei, oder war es eher Gegröle oder ein Tierlaut? Werden die Kinder der Nachbarn «nur» angeschrieen oder werden sie auch misshandelt? Auch sind stille seelische Nöte nicht so offenkundig wie körperliche. Ist dieser Mensch nur schlecht gelaunt, oder ist er bedrückt und deprimiert? Um dies zu erkennen, spielt Einfühlung oft eine wichtige Rolle.
Hat man die Not erfasst, kommt es nun darauf an, ob man sich selber
Verantwortung
zuschreibt, hier zu helfen. Persönliche Einstellungen spielen dabei ebenso eine Rolle wie auch Kontextfaktoren, die eventuell zu einer Verantwortungsdiffusion führen (s.o.). Für die Umsetzung in reales Handeln braucht man
Vertrauen in die eigene Kompetenz
. Man braucht Handlungsideen und die Einschätzung: Das kann ich. Wollen und Können passen nicht immer zusammen. Auch hilfswillige Menschen sind nicht selten ratlos und bleiben untätig, weil sie fürchten, einen Fehler zu machen.
Selbst wenn alle genannten Prozesse eigentlich in Richtung Hilfe laufen, kann diese Tendenz noch durch allerlei
Kosten
blockiert werden: durch Unannehmlichkeiten, Anstrengung, Gefahren, Zeitverlust etc. Den Kosten des Helfens können aber auch Kosten des Nichthelfens gegenüberstehen, etwa die Missbilligung durch andere Menschen oder ein schlechtes Gewissen, und diese Kosten können die Tendenz zum Handeln unterstützen.
Wenn von Kosten die Rede ist, darf man auch den
Gewinn
nicht vergessen. Der Gewinn kann eigener Nutzen sein, etwa die Anerkennung oder Gegenleistung anderer. Doch ebenso kann das Handeln vorrangig vom Gewinn für den Empfänger, also von
seinem
Wohlergehen geleitet sein. Das wäre dann eine uneigennützige, eine
altruistische
Motivation. Dass die helfende Person davon auch selber einen
emotionalen
Gewinn hat, weil sie sich nämlich mitfreut, wenn es dem anderen besser geht, oder weil sie moralisch mit sich im Einklang ist – das alles macht ihr Handeln nicht
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