Abschied von der Küchenpsychologie
einfacher. Die «Gleichgültigen» der zweiten Serie hatte man unter Zeitdruck gesetzt: Die Aufsicht kam in den Vorbereitungsraum, schaute auf die Uhr und sagte: «Oh, Sie werden drüben schon erwartet». Die Studenten der ersten Serie hatte man so informiert, dass es drüben noch einige Minuten bis zur Aufnahme dauern könnte.
Kontextfaktoren
Zeitdruck ist ein Faktor, der unser Handeln im Alltag sehr oft bestimmt, und das gilt eben auch für die Hilfeleistung. Dabei ist er nur einer von vielen Kontextfaktoren, von denen es abhängt, ob Hilfe geleistet oder unterlassen wird.
Sehr wichtig ist die
Art der geforderten Hilfe
. Bei einer Autopanne zupacken, für die Sorgen anderer Menschen ein offenes Ohr haben, ein Kind aus einem brennenden Haus retten oder einen kranken Menschen betreuen – das sind sehr unterschiedliche Anforderungen, und die meisten Mensch helfen gerne auf die eine Weise, aber nicht auf die andere. Wer bei der freiwilligen Feuerwehr mitmacht, schreibt meist nicht auch Briefe für politische Gefangene. Wer für ein Kinderhilfswerk Geld spendet, spendet ihm meistens nicht auch seine Freizeit. Und psychologisch ist es auch ein großer Unterschied, ob man einer Aufforderung zur Hilfeleistung folgt oder von selbst die Initiative ergreifen muss. Helfen und Helfen ist eben nicht dasselbe.
Zu der Art der Anforderung gehören auch die sog.
Kosten
der Hilfeleistung. Dazu zählen der Zeitaufwand, die Anstrengung, die Risiken, die materiellen Verluste. Nachts auf der Landstraße eine winkende Person mitzunehmen, mag riskant erscheinen; und ein verschmutzter, blutender Mensch wird weniger gerne auf den Autositz gelassen als ein total Erschöpfter.
Viele Faktoren betreffen den
interpersonalen
Kontext. So spielt natürlich die
Beziehung
zwischen Helfer und Hilfeempfänger eine erhebliche Rolle. Guten Freunden zu helfen, gilt meist als selbstverständlich; innerhalb der Verwandtschaft zu helfen, ist für viele Menschen eine Pflicht. Anders ist es meist bei Fremden oder anonymen Notleidenden. Doch auch hier wird man eher helfen, wenn man sich dem Hilfeempfänger durch eine Gemeinsamkeit verbunden fühlt, etwa durch die Religion oder die politische Einstellung. Weiterhin hilft man eher Menschen, die
schuldlos
in Not geraten sind (z.B. durch ein Erdbeben, durch Krieg), als Menschen, die dafür selbst verantwortlich erscheinen (z.B. Straftätern, Suchtkranken).
Ein bedeutsamer Faktor in der akuten Situation ist die
Anwesenheit anderer Personen
. Immer wieder kommt es vor, dass mehrere Personen auf eine Notsituation stoßen, aber niemand Hilfe leistet. Dann liest man vielleicht in der Presse: «Obwohl in der U-Bahn-Station mindestens zwölf Personen Zeuge des Vorfalls wurden, hat niemand eingegriffen oder die Polizei gerufen.» Doch statt «obwohl» müsste es eher heißen:
Weil
mehrere Personen anwesend waren. Wenn man nämlich sieht, dass auch andere den Notfall sehen, kommt es leicht zur sog.
Verantwortungsdiffusion:
Man fühlt sich nicht selbst zum Helfen aufgerufen, weil die anderen es ebenso gut tun könnten. Doch genau so denken die wahrscheinlich auch! Hinzu kommt, dass das passive Verhalten der anderen auch die eigene
Beurteilung
des Geschehens beeinflusst. Sieht man Menschen, die in Ruhe zuschauen, so kann das die Beurteilung in die Richtung «nicht so schlimm» lenken. Oder es fällt dadurch einfach schwer, vor den Augen der anderen einzugreifen oder sie zum Mithelfen aufzufordern. Wer möchte schon als aufgeregtes Huhn erscheinen?
Zusammengenommen heißt das, dass passive Zuschauer sich gegenseitig in ihrem Nichtstun bestärken – ein Teufelskreis. Wäre man als Einzelner auf die Notsituation gestoßen, hätte man eher eingegriffen. Oder sobald einer der Anwesenden die Passivität durchbricht, werden andere wahrscheinlich folgen, es sei denn, weitere Hindernisse, wie etwa die Gefährlichkeit des Einsatzes, stehen dem entgegen. Für die Praxis heißt das: Wer den Teufelskreis des Nichtstuns durchschaut, sollte selber den Anfang machen und andere Menschen direkt auffordern: «Sie in der grünen Jacke, könnten Sie bitte die Polizei anrufen; ich kümmere mich um den Verletzten.»
Nicht nur die Anwesenheit anderer kann hemmen. In manchen Situationen scheut man sich, in die Privatsphäre anderer Menschen einzudringen, etwa dann, wenn es um Gewalt in der Ehe oder gegen die Kinder geht. Wenn beispielsweise, wie in einem Experiment, Passanten auf der Straße einen heftigen Streit zwischen einem Mann und
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