Abschied von der Küchenpsychologie
«Abreagieren» gedacht. In der Vergleichsgruppe folgte stattdessen eine sanfte Geschicklichkeitsübung: auf einem Balken balancieren und dabei Keulen einsammeln. Waren nun die Jugendlichen, die den Ball schleuderten, anschließend weniger verärgert und weniger aggressiv in ihrem Verhalten als die Gruppe mit dem Schwebebalken? Nein, es gab keinen Unterschied.
Weil kraftvoller Sport oder überhaupt Sport oder auch quasi-aggressive Aktivitäten wie z.B. Holzhacken besonders gerne für den «Aggressionsabbau» empfohlen werden, wurde deren Wirkung in vielen weiteren Experimenten untersucht (Näheres in meinem Überblick in «Lernfall Aggression»). Ein «Ableiten von Aggressionen» ließ sich nie feststellen. Einige Beispiele in Kurzform:
Kräftiges Treten auf einem Heimtrainer verglichen mit ruhiger Tätigkeit. Ergebnis: Das Treten steigerte aggressives Verhalten.
Skigymnastik im Vergleich zu gleich langem Warten oder zu einer Konzentrationsaufgabe. Ergebnis: Die Gymnastik wirkte nicht besser als bloßes Warten; die Konzentrationsaufgabe verminderte die ärgerliche Stimmung am besten.
Kräftiges Dreinschlagen an einer Art Hau-den-Lukas-Gerät verglichen mit stillem Sitzen auf dem Stuhl: Ergebnis: Kein Unterschied.
Auf einen Punching-Sack schlagen verglichen mit bloßem Warten. Das Ergebnis hier: Das Schlagen machte eher aggressiver.
In diesem letzten Experiment von Bushman und Mitarbeitern wurde auch geprüft, ob das «Abreagieren» vielleicht doch hilft, wenn man daran
glaubt
. Ein Teil der Versuchspersonen war beeinflusst worden durch einen (vermeintlichen) Zeitungsartikel mit dem Titel: «Forschungen zeigen: Das Einschlagen auf unbelebte Objekte ist ein effektiver Weg, Ärger loszuwerden.» Die Vergleichsgruppe las von einem «ineffektiven» Weg. Diejenigen, die pro Abreagieren beeinflusst worden waren, hatten zwar größeres Interesse an dem Punching-Sack als die negativ Informierten, aber die erwartete Abfuhr von Ärger trat nicht ein. Im Gegenteil: Wer an eine Katharsis glaubte, verhielt sich nach dem Eindreschen in einem anschließenden Wettkampf sogar aggressiver als die Vergleichsgruppe.
In all diesen Untersuchungen ging es um akuten Ärger. Wie ist es aber mit dem vorbeugenden «Abreagieren» – wie in dem fiktiven Beispiel von Karlheinz B., der immer montags um 18.00 Uhr durch Boxen sein Reservoir an «Aggressionen» reduzieren will? Auch dies funktioniert nicht. Dies belegt unter anderem eine Untersuchung an traditionellen Volksstämmen zum Zusammenhang zwischen Krieg und Kampfspielen. Nach der Ventil-Idee müssten Stämme, die viel Kampfsport treiben, auf diesem Wege ihre aggressiven Impulse abreagieren und daher weniger zur Kriegführung neigen. Gefunden wurde aber das Gegenteil. Statt aggressive Impulse zu «kanalisieren», dienten die Kampfspiele eher der Einübung kriegerischer Aktivitäten.
So wenig wie heftige körperliche Aktivitäten sind auch Schimpfen, aggressive Fantasiespiele oder gewalthaltige Filme ein guter Weg zum «Abreagieren». In einer Untersuchung sollten verärgerte Studenten sich
vorstellen
, dass ihnen ihr Widersacher gegenübersitzt, und zwei Minuten heftig mit ihm
schimpfen
. Ergebnis: Die Teilnehmer fühlten danach nicht weniger, sondern mehr Groll auf den Provokateur als vorher; mit dem Schimpfen hatten sie sich offenbar selber aufgeheizt. Zum Vergleich: Das Nachdenken über die eigenen Gefühle oder das Sprechen mit einem verständnisvollen Zuhörer milderte den Ärger.
In einem
aggressiven Spiel
hatten neun jährige Kinder Gelegenheit, auf ein Bild zu schießen, das dem Jungen glich, der sie zuvor geärgert hatte. Auch dies verminderte keineswegs ihr aggressives Verhalten, als sie ihm später wieder begegneten und es ihm heimzahlen konnten, indem sie ihn bei einer Aufgabe behinderten. Zum Vergleich: Wurde das provozierende Verhalten des Mitspielers verständlich gemacht (z.B. er sei übermüdet), dämpfte das die Vergeltung.
Genauso wenig darf man vom Lesen eines Krimis oder vom Anschauen
aggressiver Filme
eine «Ableitung von Aggressionen» erhoffen. Gerade für Gewalt in Filmen und Videospielen sind im Gegenteil eher stimulierende Effekte gefunden worden, jedenfalls bei Kindern und Jugendlichen, die aufgrund eines unkritischen Medienkonsums und eines problematischen Milieus für falsche Vorbilder empfänglich sind.
Fazit: Wenn man durch das Traktieren einer Boxbirne, durch Holzhacken oder durch das Zertrümmern von Geschirr aggressive Impulse abzuleiten versucht,
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