Abschied von der Küchenpsychologie
so hat das vielleicht mit magischem Denken zu tun, aber nicht mit psychologischen Fakten.
Was an der Ventil-Idee nicht stimmt
Merkwürdig: Niemand behauptet, durch einen freudigen Luftsprung würden Glücksgefühle «kanalisiert» oder durch Schreien würde Angst «abgebaut» – sondern nur, die Emotionen würden auf diese Weise
ausgedrückt
. Für aggressive Gefühle soll hingegen gelten: Ausagieren = Loswerden.
Die populäre Idee vom Abreagieren enthält, genauer betrachtet, drei Irrtümer. Der erste liegt in dem
undifferenzierten Gebrauch des Wortes «Aggressionen»
im Deutschen (im Englischen etwa gibt es keine «aggressions»). Was soll das eigentlich sein – diese «Aggressionen»? Eine gereizte Stimmung? Ärger über einen anderen Menschen? Hass auf einen anderen Menschen? Das Bedürfnis nach Rache? Empörung über eine Ungerechtigkeit? Lust aufs Schikanieren? Lust auf sadistische Quälereien? Wenn man diese und andere Emotionen nicht als verschiedenartige Empfindungen versteht, mit denen man vielleicht auch unterschiedlich umzugehen hat, sondern einheitlich als «Aggressionen», die «raus wollen», dann mag es naheliegen, dass man sie auch durch beliebige Attacken gegen irgendwen oder irgendwas vermindern kann.
Dass aggressive Gefühle keineswegs so unspezifisch sind, zeigt sich an der einzigen Ausnahme, bei der so etwas wie eine Katharsis vorkommt – bei der gezielten Vergeltung gegen den Widersacher. Erreicht man es nämlich, genau
den
Menschen zu bestrafen, von dem man sich schäbig behandelt fühlt, dann
kann
sich damit ein «gutes Gefühl» einstellen und die Aggressionstendenz gegen ihn beendet sein – man ist quitt. Allerdings ist dies keine Automatik. Manchmal kommen Menschen durch die Vergeltungshandlung sogar erst richtig «in Fahrt» (Rache ist «süß»!); nicht selten wird auch die Vergeltung vom Widersacher zurückvergolten und so fort. Und falls man nachträglich Schuldgefühle bekommt oder sein Verhalten doch etwas peinlich findet, so ist statt eines «guten Gefühls» eher das Gegenteil zu erwarten.
Der zweite Irrtum liegt in der Vorstellung, «Aggressionen» seien
aggressive Energien
, die sich wie eine Flüssigkeit nach hydraulischen Gesetzen «verschieben» oder «anstauen» und die sich «kanalisieren» und «ableiten» lassen – alles Begriffe aus dem Installationshandwerk, die hier auf psychisches Geschehen übertragen werden. Nach einer anderen Variante können die aggressiven Energien durch körperliche Aktivitäten «verbraucht» werden. Wenn das so wäre, dann wäre das Gegenteil, nämlich körperliche Entspannung, ein völlig verkehrter Weg. Tatsächlich sind aber Entspannungs- und Beruhigungsmaßnahmen sehr gut geeignet, um starke Affekte zu reduzieren.
Gegen das «Ableiten» oder das «Verbrauchen» von Energien spricht im Übrigen der zuvor erwähnte Fall der direkten Vergeltung. Falls hierdurch «Ruhe» eintritt, dann gewiss nicht wegen eines Energieabbaus. Die provozierte Person muss die Vergeltung nämlich nicht einmal selbst ausüben. Wirksam ist auch eine Bestrafung durch Dritte, durch ein Gericht oder durch ein «gerechtes Schicksal», vielleicht auch eine Entschuldigung des Widersachers oder die Erkenntnis, dass die Provokation auf einem Missverständnis beruht. All dies «kanalisiert» oder «verbraucht» gewiss keine Energie, aber es verschafft Genugtuung, es stellt das Gerechtigkeits- und Selbstwertgefühl wieder her – und auf diesen
Effekt
, auf das Erreichen dieses Ziels kommt es an, und nicht auf bestimmte Aktivitäten.
Der dritte Irrtum liegt in der Vorstellung,
Gefühle könnten «raus»
. Das würde ja bedeuten, sie könnten den Körper verlassen. Die Vorstellung, dass durch ein Ventil etwas «raus»kommt, was anschließend nicht mehr drin ist, passt zwar beim Wasserdampf, aber nicht bei Emotionen. Hier erliegt man der Suggestivkraft bildhafter Begriffe wie «Ventil» oder «Dampf ablassen». Wie sollen denn Emotionen von innen nach außen gelangen und durch die Luft entschweben? Natürlich kann man Gefühle im Verhalten
ausdrücken
, durch eine Ohrfeige ebenso wie durch eine sprachliche Botschaft. Aber das heißt nicht: Jetzt sind sie draußen und nicht mehr drinnen. Drinnen jedoch können sich Gefühle
verändern
! – auf Wegen, von denen gleich die Rede sein wird.
Man mag nun fragen, warum die Ventil-Idee trotz ihrer Schwächen so verbreitet ist. Zum Teil liegt es wohl daran, dass sie so schön simpel ist. Aber vermutlich hat sie auch
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