Abschied von der Küchenpsychologie
vor, die noch keine Gruppe bildet, z.B. 28 Teilnehmer einer Kaffeefahrt nach Rüdesheim mit Gelegenheit zur Teilnahme an einer Werbeveranstaltung. Die Personen haben gemeinsame Ziele, bedürfen zur Erreichung der Ziele jedoch nicht unbedingt der Interaktion und der Rollendifferenzierung. Der Veranstalter, die Schröpf-GmbH, hat daran wohl auch nicht das geringste Interesse. Stellen wir uns nun vor, der Busfahrer Brause würde das Fahrzeug in den Graben lenken oder Teilnehmer Willi Zorn würde den wortgewandten Veranstaltungsleiter Schröpf-Junior lauthals als Lump und Betrüger beschimpfen – wir könnten unmittelbar Zeuge der Rollendifferenzierung durch Interaktionsprozesse werden. Man würde miteinander sprechen, Meinungen austauschen; einige würden Aktivitäten entfalten, andere würden passiv bleiben, abwarten, was weiter geschieht, und eventuellen Anweisungen geduldig Folge leisten.»
Der Zusammenschluss zu Gruppen kann viele Vorteile mit sich bringen. Menschen können auf diese Weise Leistungen vollbringen, zu denen Einzelne nicht fähig wären. Evident ist dies seit Urzeiten bei der Addition von Körperkräften (z.B. Pyramidenbau). Interessanter aber ist die gemeinsame Suche nach einer
Problemlösung
. Die Gruppe
kann
hier dem Einzelnen überlegen sein – aber sie ist es keineswegs immer. Es hängt sehr von der Art der Aufgabe ab und von der Koordination in der Gruppe. Wenn sich die Mitglieder durch ständiges Reden gegenseitig beim Nachdenken behindern oder wenn ungewöhnliche Ideen prompt abgebügelt werden («Das geht sowieso nicht»), ist die Gruppe oft weniger produktiv als der beste Einzelne. Beim sog. Brainstorming ist es daher sinnvoll, wenn alle zunächst im stillen Nebeneinander ihre Ideen notieren, um für Vielfalt zu sorgen, und erst dann zu einem stimulierenden Austausch übergehen. Auch ein neutraler Koordinator kann hilfreich sein.
Für das Zusammenleben von Menschen ist eine andere Art der Gruppen-«Leistung» aber vielleicht die interessanteste: die
Bildung von Normen
. Was ist das richtige Verhalten? Was ist gerecht? Welche Werte sind wichtig, z.B. Reichtum, Körperkraft, geistige Leistungen, Familienehre, Fürsorglichkeit? Zu solchen Fragen kann man die richtigen Antworten nicht wirklich finden (wie in der Wissenschaft), sondern sozusagen nur erfinden. Es sind normative Setzungen; sie besagen: So s
oll
man denken, so soll man handeln. Sie schenken jene Orientierungen und Gewissheiten, ohne die man die Welt als zielloses Chaos erleben würde. Das Hochhalten bestimmter Normen gehört zum Profil von kleinen Gruppen mit persönlicher Interaktion, z.B. von Tierschutzaktivisten oder einer Straßengang, und ebenso von Konfessionen und politischen Lagern, mit denen sich der Einzelne identifiziert, ohne alle Mitglieder persönlich zu kennen. Häufig sind kleine Gruppen Ableger von größeren normativen Gemeinschaften.
«Wir» und «die»: Prozesse zwischen Gruppen
Dass Gruppen sich in ihren Normsetzungen von anderen Gruppen
unterscheiden
, ist häufig ein zentraler Punkt ihres Selbstverständnisses. Sich einer bestimmten Gruppe zugehörig zu fühlen, bedeutet daher nicht selten, dass man sich von manchen Gruppen ausdrücklich distanziert («Anders als
die
streben
wir
an …»). Man spricht auch von Bezugsgruppen.
Für den Einzelnen werden seine
Zugehörigkeiten
zu Bestandteilen seiner Identität, der sog. sozialen Identität. Die Frage «Wer bin ich?» beantwortet man also nicht nur mit Aussagen zur Person («Ich bin 52 Jahre, Jurist, begeisterter Segler, humorvoll, introvertiert …»), sondern auch mit der Angabe von Gruppenzugehörigkeiten: «Ich bin Deutscher, bin Buddhist, bin Bayer mit Leib und Seele, bin engagiert bei …» Zum Teil sind dies lediglich Gruppen im Sinne einer
sozialen Kategorie
, ohne persönlichen Kontakt und vielleicht auch ohne gemeinsame Gesinnung. Doch selbst eine «angeborene» und formale Zugehörigkeit wie die Nationalität, die vielen Menschen nur wenig bedeutet, kann sich bei bestimmten Anlässen emotional bemerkbar machen, etwa im Mitfiebern, Freuen und Trauern bei Fußball-Länderspielen. Und dass «wir» heute gewonnen haben, verkünden selbst die, die nur auf dem Sofa saßen.
In bestimmten Kontexten ist die Gruppenzugehörigkeit so überaus bedeutsam, dass man kaum noch als Person XY handelt, sondern (fast) nur noch als Angehöriger einer Gruppe, z.B. als Soldat des eigenen Landes, als Parteimitglied oder als Gewerkschaftsvertreter. Von den
Weitere Kostenlose Bücher