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Abschied von der Küchenpsychologie

Abschied von der Küchenpsychologie

Titel: Abschied von der Küchenpsychologie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans-Peter Nolting
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Situation vorzustellen, und diese sagten fast ausnahmslos, sie würden das Medikament nicht verabreichen. Ganz anders dagegen das
tatsächliche Verhalten
der Krankenschwestern im Experiment: 21 von 22 schritten ohne Diskussion zur Tat.
    Wie weit kann das gehen?
    Gehorsam ist nicht dasselbe wie Konformität. Er ist nicht die Anpassung an eine Gruppenmeinung, sondern die Befolgung einer expliziten Anweisung von einer höhergestellten Person. In dieser interpersonalen Oben-Unten-Konstellation, nämlich in einem
Autoritätssystem
, begehen Menschen zuweilen Handlungen, die weit von ihren persönlichen Einstellungen entfernt sind.
    Besonders spektakulär zeigte sich dies in den berühmten Gehorsamsexperimenten von Stanley Milgram, in denen «ganz normale» Menschen zu folterartigen Handlungen veranlasst wurden, und zwar so: «Zwei Leute betreten ein Psychologielabor, um an einer Untersuchung über Erinnerungsvermögen und Lernfähigkeit teilzunehmen. Einer von ihnen wird zum ‹Lehrer› bestimmt, der andere zum ‹Schüler›. Der Versuchsleiter erklärt ihnen, dass sich die Untersuchung mit den Auswirkungen von Strafe auf das Lernen befasst. Der Schüler wird in einen Raum gebracht, auf einen Stuhl gesetzt, seine Arme werden festgebunden, um übermäßige Bewegungen zu verhindern, und an seinem Handgelenk wird eine Elektrode befestigt. Man erklärt ihm, dass er eine Reihe von Wortpaaren zu lernen habe und dass er bei jedem Fehler einen Elektroschock von wachsender Stärke erhalten werde.» (Milgram, S.  19 ). Der «Schüler» spielt nur eine Rolle: Er ist in Wahrheit ein Helfer des Versuchsleiters und erhält keine realen Schocks. Zum «Lehrer» aber werden echte, ahnungslose Versuchspersonen bestimmt, die sich aufgrund einer Zeitungsanzeige für 4 Dollar Honorar zur Teilnahme an einem einstündigen wissenschaftlichen Experiment zur Gedächtnisforschung gemeldet haben: Lehrer, Postbeamte, Arbeiter, Ingenieure usw. Der «Lehrer» wird vor einen eindrucksvollen Schockgenerator gesetzt, der mit 30 Schaltern von 15 Volt (Aufschrift: «Leichter Schock») bis 450 Volt («Bedrohlicher Schock») ausgestattet ist. Er erhält die Aufgabe, den Schüler für jeden Gedächtnisfehler mit einem Schock zu bestrafen, wobei er jedes Mal eine Stufe höher gehen soll. Bei der Ausführung dieser Aufgabe hört der «Lehrer» mit zunehmender Schockstärke immer heftigere Schmerzschreie des «Schülers». Wenn der «Lehrer» daher aufhören will, sagt der Versuchsleiter stereotyp: «Machen Sie weiter.»
    Die Frage war nun: Bei welcher Schockstufe wird die Versuchsperson sich weigern weiterzumachen? Wie viele werden bis zum bitteren Ende von 450 Volt gehorsam sein? Ergebnis: 65 Prozent sind gehorsam bis zur Höchststärke, wenn das Opfer im Nebenraum sitzt, bei 300 Volt protestierend gegen die Laborwände hämmert und ab 315 Volt keinen Ton mehr von sich gibt. 40 Prozent gehorchen bis zum Ende, wenn das Opfer im gleichen Raum sitzt und in seinem Schmerz zu hören und zu sehen ist. 30 Prozent tun es sogar dann noch, wenn sie das Opfer berühren, nämlich seine Hand auf die «Schockplatte» drücken müssen; aber auch hier gehen noch alle Versuchspersonen weit in den schmerzhaften Bereich (durchschnittlich 210 Volt). Der Versuch wurde in mehreren Ländern unterschiedlicher Kulturkreise wiederholt, unter anderem in Deutschland, Jordanien und Südafrika, und die Ergebnisse waren immer dieselben. Der Autoritätsgehorsam ist offenkundig ein kulturübergreifendes Phänomen.
    Man kann darüber streiten, ob solche Experimente ethisch vertretbar sind. Nicht streiten kann man hingegen über den Erkenntnisgewinn. Ich weiß, dass einige Schlaumeier behaupten, Milgram habe doch nur herausgefunden, dass Wasser nass ist. Tatsächlich aber hatten in einer Umfrage
vor
dem Experiment fast alle Psychologen und Laien übereinstimmend vorausgesagt, dass die Versuchspersonen fast zu 100 Prozent vorzeitig abbrechen würden und dass durchschnittlich nur die 135 -Volt-Stufe erreicht würde.
    Diese Fehleinschätzung zeigt erneut, dass man auf die beliebte Umfrage-Frage «Wie würden Sie sich in folgender Situation verhalten?» keine sicheren Auskünfte über das tatsächliche Verhalten bekommt – einfach weil die Befragten die Faktoren, die das Verhalten tatsächlich bestimmen, nicht richtig durchschauen können. Die meisten Menschen denken vermutlich vorrangig an Personmerkmale, vor allem an Einstellungen, und im Falle des Milgram-Experiments schreibt man sich selbst

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