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Abschied von der Küchenpsychologie

Abschied von der Küchenpsychologie

Titel: Abschied von der Küchenpsychologie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans-Peter Nolting
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wie auch den allermeisten Menschen natürlich eine ablehnende Einstellung zu.
    Das tatsächliche Verhalten der Versuchspersonen erklären Menschen, die das Experiment im Film sehen, mit personalen Faktoren wie: «Die sind sehr unkritisch», «Die sind sehr autoritätsgläubig», «Die leben ein latentes Aggressionsbedürfnis aus». Der entscheidende Punkt ist jedoch der situative und interpersonale Kontext, nämlich die Einbindung in eine Autoritätssituation, in diesem Fall: in ein wissenschaftliches Experiment unter einem «verantwortlichen» Wissenschaftler in einem wissenschaftlichen Institut. Es war diese Konstellation, die das «Gehorsamsverhalten» möglich machte. Wie weit jemand ging, hing erstaunlich wenig mit den Persönlichkeitseigenschaften der Versuchspersonen zusammen. Umso bedeutsamer waren kleine Veränderungen in den äußeren Kontextbedingungen. So sank die Gehorsamsrate rapide, wenn der Versuchsleiter vorübergehend den Raum verließ. Dann «mogelten» viele und gaben nur ganz leichte Schocks.
    Ähnliche Ergebnisse fand man in diversen Abwandlungen des Experiments. In einem Versuch von Wim Meeus und Quinten Raaijmakers hatten die Versuchspersonen die Aufgabe, Stellenbewerber in einem angeblichen Auswahlverfahren durch harsche Bemerkungen so sehr unter Stress zu setzen, dass sie versagten und die Stelle nicht bekamen (die «Bewerber» waren in Wahrheit Helfer der Untersucher). Rund 90 Prozent der Versuchspersonen befolgten den Auftrag. Allerdings: Wenn sie vorher unterschrieben hatten, dass sie für den Fall rechtlicher Konsequenzen ihre persönliche Verantwortung anerkannten und der «Bewerber» dann tatsächlich rechtliche Schritte androhte, sank die Gehorsamsrate auf 30 Prozent.
    Autoritätsgehorsam im Alltag
    Es handelt sich in den Beispielen nicht um Gehorsam aus Angst vor einer angedrohten Bestrafung bei Verweigerung, es handelt sich auch nicht um Gehorsam gegenüber Menschen, die persönliche Autorität oder Charisma ausstrahlen. Es handelt sich vielmehr um Gehorsam in einem Autoritätssystem. Zu einem solchen System gehört, so Milgram, ein Aktionsort, eine anerkannte Aufgabe und eine Rollenverteilung. In einer wissenschaftlichen Einrichtung ist klar, wer Versuchsleiter und wer Versuchsperson ist, und beide haben ihre Rolle. Die Versuchsperson würde z.B. nicht auf die Idee kommen, Anweisungen zu erteilen und die Geräte zu erklären; dies erwartet man vielmehr vom Versuchsleiter. Seine Autorität ergibt sich aus seiner Funktion und aus der Institution, in der er tätig ist. Beides ist gewöhnlich an einen passenden Ort gebunden. In seiner Wohnstube hätte der Versuchsleiter nicht dieselbe Autorität wie im Institut. In einem solchen Rahmen fühlt sich die «untergebene» Person nicht mehr direkt für ihr Handeln verantwortlich, sie fühlt sich vielmehr als Werkzeug der Autorität.
    Wohl alle Menschen befolgen gelegentlich die Aufforderung einer Autoritätsperson, ohne wirklich einverstanden zu sein. Aber viel häufiger sind wir folgsam, weil die Aufforderung sachlich begründet und vernünftig erscheint. Denn das Prinzip des Autoritätsgehorsams ist in gewissem Maße völlig normal, nützlich und sogar unverzichtbar für das Zusammenleben der Menschen. Denn jeder Mensch weiß, dass er nicht selbst alles beurteilen und ausführen kann, und jeder begibt sich in Institutionen, die von anderen Menschen geführt werden, wie z.B. eine Arztpraxis, eine Behörde, eine wissenschaftliche Einrichtung. Hier lässt man sich ganz selbstverständlich führen, statt anderen zu sagen, wo es langgeht. Umgekehrt ist wohl jeder erwachsene Mensch in bestimmten Positionen selber für andere eine Autorität, z.B. als Mutter oder Vater, als Abteilungsleiter, als Lehrerin, als Hausmeister.
    Ohne diese Gewöhnung an das Prinzip Gehorsam gegenüber Autoritäten, ohne diese ganz normale Sozialisation eines jeden Menschen sind die Befunde in den geschilderten Experimenten kaum zu verstehen. Wo sich bestimmte Autoritätsbeziehungen etabliert haben, bleibt der Gehorsam häufig auch dann selbstverständlich, wenn man eigentlich anderer Meinung ist. Denn sonst würde man eine institutionell verankerte Beziehung in Frage stellen – was peinlich ist und Angst macht. So befolgt dann also die Krankenschwester die Anweisung des Arztes quasi in sozialer Automatik – dagegen kommt ihr besseres Wissen nicht an. Es sollen schon Flugzeugunglücke passiert sein, weil der Copilot dem Ersten Piloten nicht widersprechen

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