Abschied von der Küchenpsychologie
Längenvergleich. Bei den ersten drei Aufgaben geben alle Teilnehmer sofort dieselbe Antwort. Die vierte Aufgabe, die hier abgebildete, erscheint genauso «puppig». Doch völlig unerwartet sagen alle fünf Teilnehmer vor Ihnen (die siebte auch): Linie 3 – und was sagen Sie nun? Im Experiment blieb ein Viertel der echten Versuchspersonen (alle anderen waren Eingeweihte) bei sämtlichen Aufgaben dieser Art standhaft und gab immer die korrekte Antwort. Zwischen 50 und 80 Prozent der Teilnehmer (in unterschiedlichen Varianten des Experimentes) folgten mindestens einmal dem falschen Urteil, ein Drittel tat es in den meisten Fällen – gewöhnlich mit deutlichen Anzeichen von Unbehagen und Unsicherheit. Ob Zweifel an der eigenen Sehkraft geweckt wurden oder nur ein peinliches Gefühl, ganz alleine dazustehen – der Gruppendruck veranlasste jedenfalls zu falschen Antworten, die in Einzelsituationen so gut wie nie vorkamen (nach Gerrig & Zimbardo).
Dass wir uns vom Verhalten anderer anstecken lassen, kennen wir alle aus alltäglichen Beispielen: Wir lachen mit, wir klatschen mit, wir meckern mit – das ist alltäglich und macht oftmals Spaß. Doch warum kann so etwas auch funktionieren, wenn andere uns ein X für ein U vormachen wollen?
Dieser Einfluss wird als
Konformitätsdruck
bezeichnet. Jeder Mensch hat wohl schon erlebt, was für ein unangenehmes Gefühl es sein kann, als Einziger im Raum eine abweichende Meinung zu vertreten. Und das kann erstaunlicherweise auch dann passieren, wenn «die anderen», wie in dem Experiment, nicht etwa eine vertraute Gruppe sind, sondern fremde Personen, mit denen man nur kurz zusammenkommt, sodass man «gefahrlos» abweichen und anschließend seiner Wege gehen könnte. Man sieht, wie bedeutsam das Bedürfnis nach sozialer Einbindung ist.
Der Konformitätsdruck ist unter anderem dann besonders wirksam, wenn man sich selber nicht völlig kompetent und sicher fühlt, wenn sich alle anderen ohne Ausnahme einig sind und wenn sie einen hohen Status haben. Möchte man in einer Gruppe die Harmonie nicht stören und die Gefühle der anderen schonen, möchte man akzeptiert werden und dazugehören, auch dann fühlt man sich unter einem erheblichen Anpassungsdruck.
Natürlich ist eine Beeinflussung in Richtung Konformität nicht immer von Nachteil und wird auch nicht immer als Druck empfunden. In vielen Fällen kann es durchaus sinnvoll sein, sich an dem Verhalten anderer zu orientieren, etwa wenn wir uns in einem fremden Land mit anderen Gebräuchen aufhalten. Ebenso kann die Botschaft «So machen es schon ganz viele» zuweilen als hilfreicher Anstoß wirken, beispielsweise wenn man Menschen für neue Verhaltensgewohnheiten im Umweltschutz gewinnen will (s.S. 102 ). Zum Problem wird die Anpassung jedoch dann, wenn die Ansichten der anderen sachlich falsch sind, wenn produktive Ideen behindert werden und wenn man moralisch fragwürdigen Erwartungen folgt.
Echte Gruppen: ihr Innenleben
«Der Mensch ist ein Herdentier» – so werden die beschriebenen Folgsamkeiten manchmal kommentiert. Doch sosehr der Mensch ein soziales Wesen ist, der Vergleich mit der Herde ist nicht ganz korrekt. Denn ein Tier gehört nur zu einer Herde, der Mensch aber zu vielen Gruppen, z.B. zur eigenen Familie, zur Bürgerinitiative Kohlmannstraße, zum Orchideen-Verein, zur Gewerkschaft.
Solche Personenkreise sind es, die in der Psychologie im engeren Sinne mit dem Begriff «Gruppe» gemeint sind. Zur Gruppe gehört, dass die Personen eine gemeinsame Absicht haben, dafür miteinander in Interaktion treten und ein Wir-Gefühl empfinden. Sie wollen vielleicht gemeinsam im Orchester spielen, eine Verkehrsberuhigung erreichen oder eine politische Botschaft propagieren. Meist bildet sich eine interne Organisation mit Aufgaben- und Rollendifferenzierungen sowie Rangordnungen heraus. Typisch sind weiterhin Normen bezüglich des «richtigen» Verhaltens und der «richtigen» Meinung, weil die Gruppe sonst zerfallen würde. Dies bedeutet wiederum, dass die Mitglieder einem gewissen Konformitätsdruck unterliegen.
Der
Übergang
von einer bloßen Menge anwesender Personen zu einer Gruppe ist fließend. Er zeigt sich darin, dass aus einem Nebeneinander ein Zueinander und Miteinander wird, also eine Interaktion mit gemeinsamen Absichten und ersten Ansätzen einer Binnendifferenzierung. Der Sozialpsychologie Helmut E. Lück erläutert dies an einem anschaulichen Beispiel:
«Stellen wir uns eine Menge von Personen
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