Abschiedskuss
mich.
»Mein Gott, wer bist du denn? So ein kleines, hübsches Ding! Was treibst du in Gesellschaft dieser alten Hexe?«
Er redet schnell und spricht einen lustigen Dialekt, den ich nicht identifizieren kann. Nikita tut so, als wolle sie ihm in den Hintern treten.
»Nimm dir ein Bier und besinn dich auf deine gute Kinderstube, Ashley. Das hier ist Maja Grå aus Schweden, meine Zimmergenossin. Mach ihr bitte keine Angst. Sie wirkte vorhin so, als hätte sie ein Gespenst gesehen, und jetzt hat sie sich gerade etwas beruhigt.«
»Was? Du hast schon Besuch von einem der berühmten Gespenster von Mill Creek Manor erhalten?«, fragt er und fuchtelt mit den Händen wie ein Monster.
Nikita bringt ihn mit einem scharfen Blick zum Schweigen. Ashley knöpft seinen Blazer auf, setzt sich und trinkt einen Schluck aus Nikitas Flasche. Er ignoriert ihren kritischen Blick, stützt das Kinn auf die Handfläche und sieht mich mit leuchtenden Augen an.
»Maja Grå, hast du gesagt … Studiengang Buchillustration, oder? Ich habe deinen Namen auf der Liste gesehen. Er wirkt sehr exotisch.«
Wenn sein Gesicht nicht so vollkommen rund und noch dazu von der Kälte gerötet gewesen wäre, hätte man ihn fast als gutaussehend bezeichnen können.
»Sind in Schweden alle so hübsch wie du?«, fragt er.
»Ash, hör auf damit …«, warnt Nikita.
»Ach, wie dumm von mir«, fährt er fort, ohne seine Freundin zu beachten. »Wann hat man schon mal jemanden aus Schweden gesehen, der nicht gut aussieht?«
Ich fühle mich alles andere als hübsch, eher durchgeschwitzt und etwas fiebrig, aber ich lächele dennoch. Nikita reißt Ashley ihre Bierflasche aus der Hand.
»Maja, darf ich dir Ashley Morris vorstellen, er stammt aus einem der berüchtigten Vororte der berühmten Shakespeare-Stadt Stratford«, sagt sie in ironischem Ton.
Ashley zieht die Nase kraus und greift nach der Flasche, aber Nikita schnappt sie ihm weg und fährt fort:
»Er ist der größte Dandy, Schnorrer und Aquarellmaler von Mill Creek Manor. Außerdem macht er dieselbe Ausbildung wie wir. Halleluja!«
»Halleluja«, wiederholt Ashley. »Aber hört mal, mit wem muss man hier eigentlich schlafen, damit man ein Bier bekommt?«
Es zeigt sich, dass man mit niemandem schlafen muss. Man braucht nur zum Kühlschrank zu gehen, herauszunehmen, was man haben will, und dann alles auf einem ordentlich aufgehängten Zettel zu notieren. Zahlen kann man, wenn man Geld hat, und zwar den Selbstkostenpreis. Gewissensbar. Sie gehen drei, vier Mal, alle beide.
»Wo sind die anderen alle?«, will Nikita wissen. Ihre Stimme ist vom Alkohol eine Oktave tiefer gerutscht.
»Die wagen vermutlich nicht hier reinzukommen, so wie du dich die ganze Zeit aufbläst«, sagt Ashley. »Außerdem gibt Radiohead ein Wohltätigkeitskonzert im Freud. Und Chesterfield liest bei Blackstone’s aus seinem neuen Buch. Wein gibt’s gratis, da habe ich natürlich kurz vorbeigeschaut, aber es gab schon keine freien Plätze mehr.«
Ashley leert sein Glas und fährt fort:
»Die werden schon noch eintrudeln, wirst sehen. Hoffst du auf jemanden Bestimmten oder nimmst du jeden x-Beliebigen aus dem Ruderclub?«
»Wie lange seid ihr eigentlich schon in Oxford?«, frage ich, als Nikita nichts entgegnet.
»Wir sind beide gestern gekommen, aber wir haben schon letzten Sommer hier studiert«, sagt Nikita.
»Das war ein Vorbereitungskurs: ›Kreative Arbeitsmethoden‹«, ergänzt Ashley.
»Richtig gut«, stellt Nikita fest. »Das Institut ist zwar etwas versnobt und die eigentliche Ausbildung ziemlich formal. Aber es ist schließlich wichtig, die künstlerische Tätigkeit ernst zu nehmen.«
»Hör mal, du Großmaul. Die künstlerische Tätigkeit«, meint Ash. »Du klingst wie ein Papagei, der Chesterfield nachplappert.«
Nikita steigt eine feine Röte ins Gesicht. Ich kann nicht entscheiden, ob sie ernsthaft gekränkt ist oder nur so tut.
Ashley Morris behält recht. Eine halbe Stunde später ist die Bar voll mit lärmenden Studenten. Jemand hat Musik aufgelegt und eine blinkende Lichterkette angeschaltet. Nikita richtet sich auf und tupft sich nach Kirsche riechenden Lipgloss auf die Lippen. Ich muss ein Gähnen unterdrücken.
»Müde, Maja?«, fragt Ash.
»Na ja, ein wenig. Außerdem ist morgen das erste Treffen aller Teilnehmer, und ich habe noch nichts ausgepackt«, sage ich.
»Etwas Schönheitsschlaf kann bestimmt nicht schaden, bevor du Seine Hoheit triffst … ja, ich meine Chesterfield. Aber wenn du
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