Abschiedskuss
zeige dir das, wenn wir die Tate Gallery in London besuchen«, meint Ash.
Ich könnte in seinem Aquarell verschwinden. Noch nie hat mich eine Landschaftsmalerei so tief berührt. Vielleicht liegt das an dem starken erzählerischen Element. Die kleine Gruppe in dem veränderlichen Terrain. Man will wissen, wer sie sind, wo sie waren und was mit ihnen geschehen wird.
»Du würdest dich am liebsten mit Buchillustration beschäftigen, oder?«, frage ich, obwohl ich das bereits weiß.
»Ja, meine Güte, das ist mein Traum. Ist das so offensichtlich? Ich habe zu Hause bei meiner Mutter eine ganze Mappe mit Skizzen, die ich mehr oder minder nur zum Spaß angefertigt habe. Zu ›Sturmhöhe‹, ›Der Fänger im Roggen‹, ›Das Gespenst von Canterville‹ …«
»Die würde ich mir gerne einmal ansehen«, sage ich und nippe an meinem kleinen Glas.
»Das wäre wirklich eine Ehre. Ich habe meine Illustrationen noch nie jemandem gezeigt«, sagt Ashley und lächelt versonnen, fast schüchtern. Ich spüre, dass ich diesen Typen wirklich mag, seine arglose und gleichzeitig so schnippische Art. Er legt sich mit angezogenen Beinen auf die Seite und umarmt ein Kissen.
»Aber jetzt lass uns zum Wesentlichen kommen«, sagt er. »Meine Mutter kann Dinge sehen, wenn sie jemandem die Hand auflegt. Das hat sich in der Tat zu einem hübschen Nebenverdienst für sie entwickelt. Sie hat Freundinnen mit verschiedenen seltsamen Fähigkeiten. Sie haben alle so eine besondere Glut in den Augen. Genau wie du. Du brauchst dich also mir gegenüber nicht zu schämen, okay? Erzähl schon. Wie hat es bei dir angefangen?«
Ich bin erstaunt, wie viel ich erzählen will, obwohl ich es nicht gewohnt bin, darüber zu sprechen. Alles bricht hervor. Wie ich ein altes Thermometer zerbissen habe, als ich klein war, und Quecksilber auf die Lippen bekam. Dass ich mir einbilde, damals eine mikroskopische Menge verschluckt zu haben. Nicht genug, um gefährlich zu werden, aber immerhin so viel, dass sich meine Konstitution veränderte, dass ich besonders empfindsam wurde und irgendwie … anders.
Nachdem ich diese merkwürdigen Begebenheiten geschildert habe, ohne dass Ashley gelacht oder etwas in Frage gestellt hätte, fällt es mir leicht, über das andere zu sprechen. Mama, die verschwand und wie vom Erdboden verschluckt blieb. Die gewusst haben muss, dass sie verschwinden würde, da sie unsere letzte gemeinsame Woche entsprechend geplant hatte. Es ist sehr schmerzlich, über all das zu sprechen, nie zuvor habe ich jemandem so offen davon erzählt.
Wie sie mich eine Weile jeden Tag unter ihre Fittiche nahm, und zwar genau eine Woche lang, bevor sie verschwand. Sie nahm mich in dieser Zeit auf eine Art wahr, wie sie es nie zuvor vermocht hatte. Sie brachte mir ein paar einfache Kochrezepte bei, eines für jeden Wochentag. Ich war so hungrig nach ihrem Wohlwollen und genoss es einfach, in ihrer Nähe zu sein und zuzuhören, wenn sie erklärte, wie man ein Omelett oder Hackfleischsauce zubereitet oder wie lange ein Hefeteig aufgehen muss. All das, damit ich allein zurechtkommen würde. Hinterher, nachdem sie fort war. Aber das verstand ich erst später.
Ich erzähle Ash auch von Papa, der nicht weiterleben konnte. Von Mama, die tot in Brighton aufgefunden wurde. Vom vergangenen Sommer, von meinem Putzjob und von den Visionen, wie ich gewissermaßen … fremdbestimmt wurde. Das sind einschneidende, unverarbeitete Erlebnisse, über die ich eigentlich nicht so ohne Weiteres reden kann, aber da Ash so freundlich zuhört, fällt es mir ziemlich leicht. Bis ich zum letzten komme.
»Also, Nikita meinte doch, ihr sei es vorgekommen, als habe ich ein Gespenst gesehen. Damit hatte sie vielleicht recht.«
Er hört mit klaren Augen zu, als ich flüsternd das schreckliche Gefühl in Worte fasse, dass Mama vielleicht immer noch nicht beabsichtigt, mich in Frieden zu lassen. Nach all den Jahren unerklärter Abwesenheit, jetzt, wo ich die ganze Geschichte endlich für mich zu einer Art Abschluss bringen könnte.
»Das klingt wirklich irrsinnig«, sagt Ashley in mitfühlendem Ton und lallt nur ganz leicht.
»Ich weiß«, lächele ich bitter. »Jetzt glaubst du, ich sei vollkommen plemplem.«
»Überhaupt nicht. Vermutlich ist eher sie etwas plemplem. Der Tod hat diese Wirkung auf Leute, das weiß ich von meiner Mutter«, sagt Ash, »insbesondere wenn die betreffende Person bereits zu Lebzeiten etwas … neben der Spur war. Aber es ist ja vollkommen offensichtlich,
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