Abschiedskuss
was sie will.«
»Ach?«
»Sie braucht Hilfe. Sie will das Schwein drankriegen. Sie braucht deine Hilfe.«
Gespielt übermütig trinke ich den letzten Schluck.
»Und wenn ich dazu keine Lust habe?«
Ashley tätschelt mir unbeholfen die Wange.
»Ach Kleine, so funktioniert das nicht. Das ist ein wenig so wie mit der Malerei, glaube ich. Wir suchen uns nicht aus, was wir gut können. Aber meist ergibt es sich praktischerweise so, dass das, worauf wir uns besonders gut verstehen, auch das ist, was wir am liebsten tun. Schlaf jetzt gut.«
Ich taste mich durch die dunklen Korridore von Mill Creek Manor, die im Mondschein ganz anders aussehen. Schief, verzerrt, heruntergekommen. Aus irgendeinem Grund halte ich meine Schuhe in den Händen. Meine Füße in den Strümpfen verursachen keinerlei Geräusch, als ich die steinernen Treppenstufen im Nordflügel hinaufschleiche. Alle Türen sind geschlossen, und es herrscht Grabesstille. Schnuppernd wie ein Tier atme ich die Luft ein. Instant-Chinanudeln und verschwitzte Turnschuhe. Keine Maiglöckchen. Und kein Absinth.
Ich bin bereits auf halbem Weg zu Zimmer 45, als mir etwas einfällt, das mich umkehren und auf demselben Weg zu Ashley zurückschleichen lässt. Ich klopfe leise an seine Tür und flüstere:
»Ich bin’s, Maja. Ich habe etwas vergessen.«
Ash hat sich umgezogen und trägt jetzt ein ausgeleiertes Pulp-T-Shirt und eine Schlafanzughose, aber es hat nicht den Anschein, als habe ich ihn geweckt. Im Gegenteil. Er hat einen blauen Klecks auf der Wange, und seine Augen funkeln.
»Lass mich raten. Die Hexe sucht ihre kleine Silberflasche, um hineinzukriechen?«, sagt er grinsend.
»Nein, du Dummkopf. Ich frage mich nur, wer sie waren? Die Studenten, die die Sussex-Hexe freigelassen haben. Weißt du das?«
Ash lehnt sich gegen den Türrahmen und verschränkt die Arme, als würde er frieren.
»Keine Ahnung, Maja. Ich weiß nur, dass die Männer, die bei der Party waren, überlebt haben. Aber alle Frauen sind gestorben.«
7. Kapitel
Hinter den dicken Mauern des Mary-Magdalene-Instituts für bildende Künste verbirgt sich ein beeindruckender Innenhof, der auf das 13. Jahrhundert zurückgeht. Das behauptet jedenfalls ein handgemaltes Schild, das neben der Pförtnerloge hängt. Die Scharlacheichen und die Maulbeerbäume sind vermutlich sechs- oder siebenhundert Jahre jünger. Und ganz offensichtlich wird diesen Bäumen die liebevolle Pflege fähiger Gärtner zuteil. Ich fühle mich an ein mittelalterliches Dorf erinnert, das von einer Ringmauer umschlossen wird. Es gibt alles: eine Kapelle, Wohnungen, Speisesäle und Seminarräume. Gewölbegänge führen zu Geheimtreppen und lauschigen Hinterhöfen. Eine bunte Ansammlung von Gebäuden, die mit den Jahren immer weiter angewachsen ist und bei der man eigentlich mit keiner harmonischen Einheit rechnen würde. Aber genau so kommt einem alles vor, harmonisch. Wie ein Zufluchtsort.
Es wimmelt von Studenten. Viele mühen sich in dem starken Wind mit ihren großen Mappen ab. Eine junge, blonde Frau, eine auffällige Schönheit, schleppt eine altmodische Schaufensterpuppe, die sie an den Beinen festhält. Andere Studenten tragen Trainingskleidung und haben Squashschläger in der Hand.
»Das ist der ›Quad‹«, sagt Nikita und deutet auf eine menschenleere quadratische Wiese. In ihrer Mitte erhebt sich eine abstrakte Bronzeskulptur. Ich tippe auf Henry Moore oder jemanden aus derselben Zeit, wage jedoch nicht, etwas zu sagen, aus Angst, dass ich mich irren könnte.
»Alle Colleges in Oxford haben einen quadratischen Innenhof. Frag mich nicht, warum«, fährt sie fort und kehrt der kahlen Fläche den Rücken zu. In der eisigen Vormittagsluft wird unser Atem zu weißem Dampf.
»Einige der Studenten im letzten Studienjahr wohnen auf dem Campus. Und manche der Dozenten. Die können wirklich immer ausschlafen! Das Gebäude da drüben, das aussieht wie eine Kirche, heißt ›Halls‹. Dort essen wir an den Tagen zu Mittag, an denen wir von morgens bis abends Lehrveranstaltungen haben«, sagt Ashley.
»Wenn wir es uns leisten können, bestellen wir das DreiGänge-Menü«, ergänzt Nikita. Dann deutet sie in die entgegengesetzte Richtung auf ein efeubewachsenes Bauwerk, das fast barock wirkt.
»In dieser Bude sind die Professoren. Dahinter liegt der Hirschgarten. Den kann ich dir später zeigen.«
Ihr Blick wirkt auf einmal abwesend, und ich verstehe sie. Hirschgarten. Das klingt wie aus einem Märchen. Ash biegt in einen
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