Abschiedskuss
Bogengang ein, der besser zu einem gotischen Kloster gepasst hätte.
»Kommt, wir machen noch einen kurzen Abstecher in den Tearoom. Ich sterbe, wenn ich nicht gleich eine Cola und eine Kopfschmerztablette bekomme.«
»Willkommen, liebe Studenten, zu einer der wenigen Lehrveranstaltungen, die ich noch selbst leite. Ich habe das Fach Buchillustration mit ins Leben gerufen, und deshalb liegt mir dieser Kurs so sehr am Herzen.«
Professor Leopold Chesterfield setzt ein zuckersüßes Lächeln auf und rückt seinen saphirblauen Schlips zurecht. Das Selbstbewusstsein dringt ihm förmlich aus allen Poren.
»Es ist ein Privileg, so viele begabte Menschen in einem Raum versammelt zu sehen. Einige von Ihnen kenne ich natürlich bereits«, fährt er fort und sieht mit seinen funkelnden Augen in Nikitas Richtung.
Der Professor ist gar nicht so, wie ich ihn mir vorgestellt hatte. Weder ein Bohemien noch ein Draufgänger. Er ist klein, und sein welliges Haar hat für einen Mann in schon etwas fortgeschrittenem Alter eine unnatürlich goldblonde Farbe. Ich kann ihn mir nicht mit einem Kohlestift oder einem Pinsel in der Hand, die Hosen von Leinöl befleckt, vorstellen.
»Ich habe jedoch das Gefühl, dass ich Sie alle durch Ihre Probearbeiten bereits ein wenig kenne. Ich war beeindruckt, das kann ich Ihnen versichern. Welch bemerkenswertes Spektrum in dieser Gruppe vertreten ist.«
Ich kann nicht recht begreifen, wie jemand mit so fundierten Kenntnissen wie Chesterfield von meinen zaghaften Bleistiftzeichnungen beeindruckt sein soll, aber eines ist sicher: Ich wurde angenommen, das ist ein Faktum. Der Professor fährt fort, als habe er meine Gedanken gelesen:
»Sie haben alle einen Platz in diesem außergewöhnlichen Studiengang verdient – weil Sie alle außergewöhnlich sind. Also: Herzlich willkommen in Oxford und am Mary-Magdalene-Institut.«
Wir sind sechzehn Studenten, etwa zur Hälfte Männer und Frauen. Die Luft knistert vor Spannung, und ich glaube nicht, dass ich die Einzige bin, die das so empfindet. Ein Gefühl der Ehrfurcht vor dem, was vor uns liegt, und etwas anderes. Vielleicht ein verhaltener Stolz, dass wir es so weit gebracht haben?
»Wir gehen jetzt zur Aula«, sagt Professor Chesterfield. »Ich habe einen Diavortrag als Einführung in unser erstes Projekt vorbereitet.«
Ich lande auf einem Platz zwischen Nikita und einer Japanerin, die sich als Yasu vorstellt.
»Das bedeutet ›verträumt‹«, kichert sie schüchtern. Schräg vor mir sitzt eine große Gestalt mit gebeugtem Rücken und wilder Mähne, die offenbar schon lange keinen Friseur mehr gesehen hat.
»Also dann«, sagt Professor Chesterfield und drückt auf den Dimmer. »Mir wäre es recht, wenn Sie sich die Dias anschauen und mir zuhören würden, statt sich zu sehr auf das Mitschreiben zu konzentrieren.«
Sechzehn Stifte werden gehorsam beiseitegelegt. Das erste Dia, das der Projektor an die Wand wirft, ist das Foto einer afrikanischen Maske. Die Form ist schlicht, die Gesichtszüge sind stilisiert, aber das Muster aus hellen und dunklen Dreiecken wirkt ziemlich kompliziert.
»Ihre erste Aufgabe wird ein Selbstporträt sein«, sagt der Professor, während er das Bild scharf stellt. »Sie haben zwei Wochen Zeit. Die Technik steht Ihnen frei, allerdings muss das Format mindestens A 3 sein.«
Das nächste Dia zeigt ein dunkles Barockgemälde: einen kränklichen Jüngling mit gelber Haut und einer römischen Toga. Vielleicht ein Caravaggio? Ich erinnere mich dunkel, das Bild einmal in einem Dokumentarfilm im Fernsehen gesehen zu haben.
Dann füllt ein wässriges, graublaues Aquarell den Bildschirm. Ein undeutliches Gesicht wie hinter einem Schleier.
»Selbstdarstellung«, sagt unser Lehrer. »Ich möchte, dass Sie über Selbstdarstellung als Konzept nachdenken. Über Gründe und Art der Ausführung. Jemand will, dass seine Bilder der Nachwelt erhalten bleiben. Ein anderer Künstler will eine idealisierte Alternative seiner selbst präsentieren, eine stärkere und schönere Version vielleicht. Oder geht es um ein Formexperiment? Oder um alles zusammen?«
Klick.
Nächstes Dia. Dieses Bild kenne ich definitiv. Frida Kahlos »Der kleine Hirsch«. Neun Pfeile durchbohren einen Tierkörper mit einem stoischen Frauenkopf. Die Form des verzweigten Astes im Vordergrund wird mit dem Geweih der Hirschfrau wiederaufgenommen. Blutstropfen glänzen im Fell. All das könnten Metaphern für Sagen und Legenden sein, die ich nicht kenne.
»Beachten Sie
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