Abschiedskuss
auch die Technik«, fährt Chesterfield fort. »Wie die Künstlerin mit der Farbe eher gezeichnet als gemalt hat. Übrigens auf einer Hartfaserplatte und nicht etwa auf einer teuren Leinwand … Möchte sich jemand dazu äußern?«
Der Kerl mit dem gebeugten Rücken vor mir hebt zögernd die Hand.
»Bitte. Sie heißen Jack, oder?«
»Ja. Also, ich denke …« Jack spricht einen rauen schottischen Dialekt. Er unterbricht sich und kratzt sich nervös im Nacken, dann fasst er Mut und beginnt erneut:
»… ich vermute, die Künstlerin hat einfach das genommen, was sie gerade zur Hand hatte. Das Material, ein Brett oder sonst was, spielte für sie keine so große Rolle. Sie war eher von einer Art … innerem Zwang zu malen angetrieben.«
»Interessanter Gedanke, Jack. Ist das eine Situation, die Sie von sich selbst kennen, wenn Sie mir diese persönliche Frage gestatten? Einer der Grundgedanken dieses Kurses ist nämlich, sich zu öffnen und seine Überlegungen und Strategien mitzuteilen. Wir wollen voneinander lernen.«
»Wie? Ob ich … einen inneren Zwang zum Malen verspüre?«, fragt Jack.
Leopold Chesterfield nickt aufmunternd. Jack schluckt so laut, dass ich es bis zu meinem Platz höre, bevor er antwortet.
»Also, manchmal schon. Fast so, als wäre ich … besessen.«
8. Kapitel
Unzählige Partyfackeln flackern im Wind. Sie säumen den Weg und den Quad, sie hängen an den Wänden der Bogengänge und werfen unstete Schatten an die Mauern. Im großen Saal des Instituts hat man eine Art Cocktailparty vorbereitet, und viele Gäste sind entsprechend gekleidet.
»Das wirkt ja geradezu weihnachtlich, findet ihr nicht auch?«
Ashley sieht elegant aus mit seinem altrosa Seidentuch um den Hals. Sein Gesicht leuchtet fröhlich. Die erste Bekannte, die wir entdecken, ist Yasu, unsere japanische Kommilitonin. Sie hat sich kunstvoll als Punk-Geisha geschminkt und steht allein und etwas verloren neben einem Kleiderständer. Nikita legt ihr einen Arm um die Schultern und zieht sie zu uns anderen herüber. Weiter hinten im Saal entdecke ich im Gewirr aus Haaren, Gelächter und klirrenden Gläsern weitere bekannte Gesichter. An einer der Längswände wachen weißgekleidete Kellner über ein Büfett mit kalten Platten, leckeren kleinen Pies und Teekuchen.
Professor Leopold Chesterfield steht an der Tür und unterhält sich mit anderen Dozenten. Ich stutze, als ich das Halbprofil einer seiner Kolleginnen sehe. Irgendwie kommt sie mir bekannt vor, und das beunruhigt mich. Sie ist zierlich, um die fünfzig, hat blondes, gelocktes Haar und einen etwas verschleierten, unergründlichen Gesichtsausdruck. Sie ist schön. Als sie eine Strähne beiseiteschiebt, sehe ich, dass sie die Finger meiner Mutter hat. Zumindest sehr ähnliche. Ich bilde mir ein, den milden, blumigen Duft eines Parfüms wahrzunehmen, aber ich hatte schon früher Geruchshalluzinationen und weiß, dass ich mich nicht richtig auf meine Sinne verlassen kann.
Die Frau lacht über einen Scherz, den ich nicht gehört habe, und obwohl ihre Stimme heller klingt als Mamas, ist da etwas an ihrem Lachen, an ihrem Tonfall, was mich in die Vergangenheit zurückgleiten lässt, entlang einer dunklen Perlenkette aus verlorenen Weihnachtsfesten, Silvesterfeiern und Geburtstagen. Trauer und Sehnsucht durchdringen mich, nageln mich wie mit Pfeilen auf dem Eichenparkett fest. Ich habe einen Kloß im Hals, und ich blicke zu Boden, damit niemand in dem festlich geschmückten Saal sehen kann, dass meine Augen feucht werden. Ich kann nicht weitergehen, kann nicht sprechen, kann nichts anderes tun als einfach dazustehen.
Durch die Tränen sehe ich, dass Chesterfield unsere kleine Gruppe entdeckt hat. Er hält ein Weinglas in der einen Hand und klopft Ashley mit der anderen auf die Schulter.
»Meine Lieben. Wie nett, dass Sie zu diesem kleinen Empfang erschienen sind. Haben Sie schon mit Ihren Selbstporträts begonnen?«
»Was ist dann in Ihren Augen ein großer Empfang, Professor?«, lacht Nikita. »Nein, ich denke noch über mein Porträt nach. Aber jetzt würde ich gern erst einmal einen Schluck trinken«, erklärt sie strahlend. Der Professor verzieht die Lippen und schaut ihr ungeniert auf den Hintern, als sie sich suchend nach dem nächsten Kellner mit einem Tablett umdreht.
»Liebe Nikita, Sie sind unwiderstehlich wie immer. Ich dachte, Gin Tonic sei Ihr Gift, aber vielleicht erinnere ich mich auch falsch? Schließlich liegt der letzte Sommer schon ein Weilchen
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