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Abschiedskuss

Abschiedskuss

Titel: Abschiedskuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amanda Hellberg
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zwischen den Bohlen des Piers entdeckt. Der Wachmann gestattet ihm, den Stummel aufzuheben, und deutet dann mit langem Arm zum Ausgang: »Verschwinde jetzt.«
    Der Obdachlose spürt die Kälte nicht. Er spürt nur den fast trockenen Zigarettenstummel in seiner großen Hand. Gleich hinter dem Ausgang des Piers setzt er sich auf den Asphalt der Strandpromenade und entfernt das Zigarettenpapier, um den Tabak für eine neue Zigarette verwenden zu können. Er bleibt lange dort sitzen. Vielleicht schlummert er ein. Es wird dunkel.
    Jemand geht ganz dicht an ihm vorbei. Die Person verlangsamt ihre Schritte. Ich kann ihr Gesicht nicht erkennen, aber sie trägt so einen ähnlichen Mantel wie ich. Sie geht in die Hocke und gibt dem Mann ein Pfund, aber dann ist sie verschwunden, im selben Augenblick, in dem sie die dicke Münze in die Hand des Bettlers legt, verflüchtigt sie sich wie Nebel. Es gelingt mir nicht zu sehen, ob ich diese Person bin. Mir dreht sich der Magen um. Ich friere. Ich will nicht hier sein. Ich will nicht im Freien sein.
    Und ich muss nicht länger im Freien bleiben. Die Traumfragmente dieser Nacht sind gefügig. Sie springen ein wenig hin und her.
    Jetzt befinde ich mich in einem Gebäude aus Stein. Treppen mit ausgetretenen Stufen. Das Halblicht sagt mir, dass es draußen dämmert, vielleicht ist es aber auch schon später. Plötzlich rennt jemand auf mich zu. Ich habe keine Zeit auszuweichen, Platz zu machen. Dieser Jemand rennt einfach durch mich hindurch. Ich bin ein Gespenst. Wer war das? Ich habe ihn sofort wiedererkannt. Aber ich kenne doch keinen dunkelhäutigen jungen Mann? Ich folge dem eiligen Rücken.
    Er spricht einige laute Worte, die ich nicht verstehe, in ein Polizeifunkgerät. Ich erkenne ihn an der Stimme. Seine Stimme ist dieselbe. Wohlklingend und gehaltvoll wie Schlagsahne. Inspektor King.
    Aber in meinem Traum ist er kein Inspektor, er ist ein uniformierter Schutzmann. Der große Körper ist nicht durchtrainiert, er ist geradezu dürr. Das Haar ist dichter und länger, ein wenig hochgestellt und oben zu einem Rechteck gestutzt. Ich muss im Schlaf lächeln. Ein Hip-Hop-Musiker, der sich als Bulle verkleidet hat. Aber dann vergeht mir das Lächeln. Ich sehe King direkt von vorne aus nächster Nähe, und der Ausdruck in seinen Augen ist grauenhaft – voller Entsetzen und Angst. Und er ist sehr jung.
    Dann fällt er auf die Knie. Er hält etwas. Hält jemanden. Schlägt ihm auf die Hand, auf die Wangen, löst den Kragenknopf. Es ist ein einziges Durcheinander, ich muss versuchen, einen Schritt zurückzutreten, mir einen Überblick zu verschaffen. Es geht. Irgendwie geht es, und ich kann die Ereignisse mehr von oben betrachten, auf Abstand.
    Eine Beamtin in Uniform. Ich sehe, dass King neben ihr kniet. Sie scheint zusammengebrochen zu sein. Die hohe altmodische Uniformmütze mit dem großen Schirm sitzt schief. King nimmt sie ihr vorsichtig ab. Verschwitzte Strähnen haben sich aus ihrem Knoten gelöst und kleben auf der Stirn. Sie hängt wie ein Sack auf einem Stuhl und droht jeden Augenblick einfach zur Seite zu kippen. Er stützt sie. Schaut zu einem Kollegen auf, der sich außerhalb meines Gesichtsfelds befindet. King ist offenbar von Grauen erfüllt, hat aber trotzdem das Kommando übernommen. »Komm und hilf hier mit, beeil dich!« Die Wangen der Frau sind grauweiß. Die Augen sind nicht zu sehen, und um ihren Mund herum ist es feucht. Ihre Gliedmaßen zucken. Unter dem schlaffen Körper sehe ich ein Stuhlbein hervorragen, und etwas regt sich in mir. Es ist ein ungewöhnlich niedriger Stuhl mit gedrechselten Beinen und einem braungrünen Sitzkissen. Ein Zwischending zwischen Stuhl und Sessel. Er ist mir wohlbekannt. Ich sehe diesen Stuhl jeden Tag. Ich gehe an ihm vorbei. Ich habe sogar schon auf ihm gesessen und auf Nikita gewartet. Es ist der Stuhl, der neben dem Schwarzen Brett unten im Foyer von Mill Creek Manor steht.
    »Maja!« Inspektor King klingt fröhlich und vertraulich, als seien wir alte Freunde. Oder Kollegen.
    »Wie geht’s?«
    »Hallo, Insp… Steve«, sage ich und versuche, möglichst wenig in dieser stinkenden, einzigen Telefonzelle von ganz Jericho zu berühren. Er ist schon früh bei der Arbeit. Das erstaunt mich nicht.
    »Ganz gut, danke. Sie sagten doch, ich solle nicht zögern, Sie anzurufen, wenn etwas ist, und … na ja, da sind so ein paar Dinge, die ich gern erzählen würde, falls Sie Zeit haben.«
    »Natürlich«, sagt King, und ich höre durchs

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