Abschiedskuss
ein erwachsener Mensch, sondern auch noch etwas Besonderes, ein Mensch von herausragendem Wert, der die Kunstakademie besucht, recht begabt und noch dazu etwas exzentrisch ist. Jemand, der in seiner Umgebung Bewunderung erntet und für schützenswert erachtet wird.
Der Unterschied zu der Behandlung jetzt ist fast schockierend. Als wären wir beide nur Hochstaplerinnen. Nichtsnutzige Jugendliche, die Mill Creek Manor irgendwie missachtet haben. Ich schlucke und mache mich innerlich auf alles gefasst. Von meiner Trunkenheit ist nichts mehr übrig.
Ein dickes braunes Kabel führt von einer Steckdose im Korridor durch den Türspalt über der Schwelle. Raymond reißt die unverschlossene Tür auf, und wir treten ein in die Zerstörung.
Es riecht wie schlechter Atem aus einem riesigen Mund. Etwas scheint mit dem Strom nicht in Ordnung zu sein, denn im Zimmer ist es stockdunkel. Raymond sucht in seiner Uniformjacke herum und zieht eine Taschenlampe hervor, damit wir uns selbst ein Bild davon machen können, was geschehen ist.
Jemand war in unserem Zimmer. Dieser Jemand hat die Wasserhähne aufgedreht. Das ist das eine. Der Fußboden ist tropfnass, und der Teppichboden fühlt sich unter den Schuhen an wie ein Schwamm. Errol und Raymond haben offenbar ein großes Baustellen-Heizgebläse besorgt, das laut dröhnend mitten im Zimmer steht, um die schlimmste Feuchtigkeit zu beseitigen. Aber die Feuchtigkeit ist auch in die Wände gedrungen. Hier ist die Farbe bereits abgeblättert. Das heiße Gebläse macht das Ganze womöglich noch schlimmer, aber das sage ich nicht. Denn wie sähe die Alternative aus?
»Verdammte Schlamperei!«, brüllt Raymond, damit man ihn beim Lärm des Gebläsemotors überhaupt hören kann. »Wenn ich Sie nicht besser kennen würde, bestünde für mich kein Zweifel, dass hier reiner Vandalismus am Werk war«, fährt er mit zusammengekniffenen Augen fort. »Mi Ling saß ein Stockwerk tiefer und lernte für ihre Prüfung. Wir haben sie in ein Hotel ausquartieren müssen, sie und vier weitere Bewohner.« Er schüttelt die Faust in Richtung des großen, lauten Gebläses.
»Raymond, Sie müssen uns glauben«, sagt Nikita. »Ich war das nicht und Maja auch nicht.« Sie sieht mich voller Überzeugung an. Ich schüttele nur den Kopf. Ich bekomme keinen Ton über die Lippen.
»Wer war es dann? Errol hat Sie gesehen, das habe ich Ihnen doch gesagt.«
Nikita reibt sich müde die Augen, und schwarze Schminke verteilt sich auf ihren Wangen.
»Ich weiß es nicht, Raymond. Ich weiß nicht, wen Errol gesehen hat, aber ich war das jedenfalls nicht. Warum sollte ich so etwas tun? Nein, das muss …«
»Was?«, fragt Raymond.
»Irgendeine Art … persönliche Rache«, sagt Nikita ausdruckslos. »Jemand, der einem alles zerstören will.«
»Hm«, sagt Raymond, aber ich sehe im zitternden Lichtkegel der Taschenlampe, dass sich in seiner Miene Zweifel ausbreiten. Er ist von der Aussage seines älteren Kollegen nicht mehr ganz so überzeugt.
»Die Toilette ist verstopft, und die Betten sehen einfach furchtbar aus«, fährt er fort.
Ich drehe mich etwas verloren im Zimmer um. Wir können unmöglich heute Nacht hier schlafen. Aber wo dann? Bei Ashley? Wohl kaum. Er hat nur ein 90 cm breites Bett, das fast das ganze Zimmer einnimmt, und ebenso wenig wird er Bettwäsche, Schlafsäcke oder Isomatten in Reserve haben.
»Die Damen müssen sich eine andere Bleibe suchen, bis wir diese Sache geklärt haben«, stellt Raymond fest und verschränkt die Arme, als hätte er meine Gedanken gelesen.
»Stopp, warten Sie«, sage ich. Denn falls wirklich ein Unbekannter hier drin war und unser Zimmer verwüstet hat, wie ist er dann reingekommen? Die Tür ist unbeschädigt, sie oder er muss also einen Schlüssel gehabt haben. Sind nicht eigentlich die Pförtner für die Sicherheit der Mieter verantwortlich? Ist es nicht ihre Aufgabe, alle Eintretenden zu identifizieren und diejenigen aufzuhalten, die keinen Zutritt haben? Ich bin erschöpft, es ist spät, und ich werde richtig wütend, dass man Nikita und mich als Täter behandelt, obwohl wir die Opfer eines Einbrechers, Vandalen und wahrscheinlich sogar Diebes geworden sind. Gerade als ich widersprechen will, mischt sich Nikita ein.
»Schon okay, Maja«, sagt sie müde. »Ich weiß einen Platz. Danke für das Gebläse, Raymond.« Sie legt eine Hand auf seinen Arm und fährt fort:
»Wir klären das morgen. Jetzt ist es viel zu spät. Morgen treffen wir uns wieder hier, räumen auf
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