Abschiedskuss
und schauen alle Sachen durch. Dann sehen wir auch, ob etwas fehlt und ob wir Anzeige erstatten müssen. Okay?«
Raymond nickt mürrisch, verschont uns aber mit weiteren Vorwürfen. Während er uns leuchtet, klauben wir ein paar Kleinigkeiten zusammen, die wir für die Nacht brauchen. Ich stopfe meine Zahnbürste und einige Kleidungsstücke in meinen Rucksack. Auf der Toilette stinkt es furchtbar. Es sieht so aus, als hätte jemand in meinen Sachen gewühlt, ich bin mir aber nicht ganz sicher.
Aber als ich meine verdreckten Laken im Halbdunkel sehe, werde ich wahnsinnig wütend. Der Eindringling ist mit schmutzigen Schuhen durch mein Bett getrampelt. Das kommt mir wie eine persönliche Kränkung vor, und zum ersten Mal an diesem Abend habe ich das unbehagliche Gefühl, dass diese ganze Aktion sehr wohl auch gegen mich gerichtet sein könnte.
Aber wir können nichts anderes tun, als zu verschwinden, weg von dem dröhnenden Heizgebläse und unserem demolierten Zimmer, wieder hinaus in die Nacht.
Ich folge Nikita, ohne irgendwelche Fragen zu stellen. Es gibt im Augenblick nichts zu sagen, und ich bin bereits zu müde, um noch klar denken zu können. Wir gehen schweigend über das feuchte Kopfsteinpflaster, vorbei an Pubs mit heruntergelassenen Rollläden, wir begegnen einzelnen nächtlichen Passanten, die wie Schlafwandler ihren warmen, bequemen Betten zustreben. Erst als es etwas abschüssig und neblig wird und mir der eigentümliche Geruch der vom Kanal aufsteigenden Luft entgegenschlägt, begreife ich, dass Nikita uns nach Jericho geführt hat.
Wir gehen eine Weile die beleuchtete Hauptstraße entlang, an kleinen Antiquariaten und einem Programmkino mit einer Art-déco-Fassade vorbei.
Das massive klassizistische Hauptgebäude eines großen Verlags ragt hinter einem hohen schmiedeeisernen Gitter auf. Dann umrunden wir ein Delikatessengeschäft mit eigener Eisherstellung und biegen in eine verkehrsberuhigte Straße ein, die von hübsch renovierten ehemaligen Arbeiterhäusern, Laubbäumen und teuren Autos gesäumt wird. Am Ende das Viertels stoßen wir auf eine recht verwinkelte Straße ohne Bürgersteig und Straßenlaternen und gelangen schließlich zu einem schiefen kleinen Haus, das zu einer Häuserzeile gleichartiger Häuser gehört.
Das stimmt allerdings nicht ganz. Obwohl die Grundfläche dieser Reihenhäuser immer dieselbe ist, hat – je nach Geschmack, Lust und Laune, Alter und Geldbeutel der Besitzer – jede Fassade ihr eigenes Gesicht, ist mit den unterschiedlichsten Baumaterialien, Farben und dekorativen Elementen umgestaltet worden, so dass die Straße eher einem bunten Mosaik gleicht. Wir stehen vor dem mit Abstand ungepflegtesten Haus der Reihe. Ein kleines grauweißes Gebäude, von dem der Putz großflächig abblättert. Das Dach ist eingesunken, und die Ziersprossen an den Fenstern haben sich gelöst und hängen schief. Ein besorgniserregender Riss zieht sich von einem Fenster zum nächsten. Der Vorgarten ist mit Beton ausgegossen und wird von einer alten Matratze, einem algenbewachsenen Surfbrett und Unmengen leerer Weinflaschen in Plastiktüten geziert. Ich schaue über die Hecke des Nachbarhauses. Hier liegt im Vorgarten Schieferkies, zwei Kinderfahrräder stehen abgeschlossen zwischen zwei beschnittenen Lorbeerbüschen in Zinkeimern.
Das schäbige grauweiße Haus ist im Erdgeschoss dunkel, aber in den Zimmern im Obergeschoss brennt Licht. Nikita atmet auf und zieht an dem fleckigen Türklopfer. Obwohl sie vorsichtig ist, fällt beinahe eine Schraube heraus, und blaue Farbe rieselt von der schuppigen Haustür herab.
Ich sehe einen Schatten in einem der oberen, erleuchteten Zimmer, der die Deckenlampe einen Augenblick lang verdeckt. Dann poltert es auf der Treppe, als einer der Bewohner des Hauses mit langsamen Schritten nach unten kommt. Nikita reckt sich. Eine Gestalt ragt hinter der Milchglasscheibe der Haustüre auf. Sie zögert. Wer sollte es ihr verübeln?
»Ich bin’s nur«, zischt Nikita, so leise wie möglich, um die Nachbarn nicht zu stören. Dann hören wir, wie der Riegel zurückgeschoben wird. Die Tür öffnet sich langsam nach innen auf eine schmale, muffige Diele, in der sich schmutzige Stiefel mit weiteren leeren Weinflaschen und ein paar stinkenden Mülltüten drängen. Ich halte den Atem an. Nikita stößt einen gurgelnden Laut des Erstaunens aus.
»Was willst du hier?«, fragt sie atemlos.
»Ich wohne hier. Es fragt sich eher, was ihr hier wollt«, erwidert Jack
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