Abschiedskuss
würde ein Tuch über mein Gesicht gelegt. Der Tag verblasst und verliert zeitweilig seine Bedeutung. Es ist schön, ausruhen zu können. Wäre da nicht das Geräusch von tropfendem Wasser, würde ich loslassen und jetzt einschlafen können, denke ich. Aber es geht nicht. Das Geräusch hält mich über der Oberfläche. Mein erster verschwommener Gedanke ist, dass der Schneefall in einen Wolkenbruch übergegangen ist, der gegen die Wände prasselt. Dann geht das Prasseln in ein Brausen über, das immer lauter wird und schließlich von einem kräftigen Spritzen abgelöst wird. Was machen die da?, frage ich mich verwirrt. Was soll das? Müssen die ausgerechnet jetzt duschen? Hier drin? Und was für ein starkes Parfüm die verwenden. Aber es ist mir nicht klar, wer »die« eigentlich sind.
Benommen von Müdigkeit drehe ich mich um, wühle mich unter die beiden Kissen und vergrabe die Nase in der Matratze. Dieser durchdringende, süßliche Geruch ist ziemlich unangenehm. Mein Kopf beginnt schmerzhaft zu pochen, und Wellen der Übelkeit breiten sich in mir aus. Wie kann Nikita dabei nur schlafen? Ich bin im Begriff, mich ein weiteres Mal umzudrehen, aufzustehen und herauszufinden, was los ist. In diesem Augenblick verstummt das Brausen, und ich halte mitten in der Bewegung inne. Aber etwas anderes ist, wie es nicht sein soll. Etwas ist auf fürchterliche Art und Weise falsch. Es gibt zu wenig Platz, ich kann mich gar nicht umdrehen. Etwas ist im Weg. Etwas von derselben Größe wie ich. Ein Bündel. Ein Mensch. Jemand liegt bei mir im Bett.
Jemand, der nicht hier sein soll, jemand, der mich so sehr erschreckt, dass ich nicht denken, nicht sprechen kann. Jemand, der vielleicht vor einem Vierteljahrhundert gestorben ist. Blinde Panik ergreift von mir Besitz, und ich versuche verzweifelt, mich an die Wand zu drücken. Will nicht nahe sein, will nicht in Berührung kommen mit …
Ihr. Denn es ist eine Sie. Ich sehe das Haar und ahne, dass der Körper recht klein ist. Sie rückt näher. Ich spüre keine Wärme von den starren Gliedern ausgehen. Sie ist schwer, und ihr Körper klemmt meine Decke fest. Auf der anderen Seite ist die Wand, und dort scheint die Decke seltsamerweise unter der Matratze festgesteckt zu sein. Ich bin zwischen der Wand und einer Leiche gefangen.
Ihre leblose Stimme versucht etwas zu sagen. Es klingt, als würden zwei trockene Holzstücke aneinanderschaben. Ihr Mund ist viel zu nahe an meiner Schläfe, und ich verstehe die Worte nicht. Kalter Schweiß steht mir auf der Stirn und über der Lippe, als ich die winzige Bewegung wahrnehme, die das Kissen rascheln lässt. Es ist ihr starrer Kopf, der sich mir langsam zuwendet.
»Rieche ich?«, fragt eine keuchende Stimme.
Meine Atmung wird hektisch, ich beginne zu hyperventilieren. Mir wird schwarz vor Augen. Ich versuche mich an etwas festzuklammern, egal was. Meine Finger krallen sich in das gestraffte Bettzeug, und ich spüre, dass einige meiner Fingernägel umknicken.
Erst jetzt wird mir bewusst, dass ich noch einen weiteren Geruch wahrnehme, neben diesem wahnsinnig starken Parfüm, das mir jetzt eher wie irgendein chemischer Stoff vorkommt. Wie Nitroverdünnung oder ein industrielles Reinigungsmittel. Ammoniak. Bei jedem Atemzug ist es so, als würde der Geruch durch meine Nasenlöcher zwei weiße, ätzende Löcher in meinen Schädel brennen. Der andere Geruch ist schwerer, aber noch unangenehmer. Ein stickiger, schimmeliger Geruch. Nach welken Blumen, nasser Erde und geborstenem Sargdeckel.
»Nein«, flüstere ich schwach.
Ein leise rauschendes Ausatmen dringt von Nikitas Bett zu mir herüber, gefolgt von gleichmäßigen, ruhigen Atemzügen. Sie träumt sich sorglos durch das Grauen hindurch.
Weil es dieses Grauen gar nicht gibt, denke ich. Es existiert nur in mir. Ich entspanne mich ein ganz klein wenig und denke, dass auch diese ekelhaften Gerüche nicht existieren. Ich kann die Ereignisse nicht kontrollieren, aber ich habe meine Selbstbeherrschung wiedergewonnen.
Das Wesen neben mir merkt, dass meine Panik langsam abklingt. Es stößt ein gurgelndes Geräusch aus. In diesem Augenblick begreife ich. Ich weiß jetzt, wer neben mir liegt. Auch sie existiert nicht. Nicht mehr.
»Emma?«, flüstere ich leise.
Ein schwacher, bejahender Seufzer.
»Willst du mir zeigen, was geschehen ist?«
Eine Hand taucht aus dem Nichts in meinem Gesichtsfeld auf, schwarz vor dem Dunkel des Zimmers. Sie ist klein, aber kräftig, und sie landet auf meiner
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