Abschiedskuss
Stirn. Ich spüre, dass die Weichteile der Handfläche schwammig und in Auflösung begriffen sind. Trotzdem habe ich nichts gegen diese Berührung und ziehe meinen Kopf nicht weg. Ich muss es wissen. Die nasse Kälte der Hand lähmt meine Gedanken. Ich bewege mich, ich bin dort. Es geschieht nicht nach und nach, sondern in einem Augenblick.
Borderline
Feels like I’m goin’ to loose my mind
Jemand hat ein rotes Tuch über eine Schreibtischlampe gelegt. Das ist das erste, was ich sehe. Ich sitze auf einem Bett in einem Zimmer, das eines des Studentenheims sein könnte. Es riecht nach billigem Parfüm und dem süßen Schweiß junger Menschen. Meine Hände gehören zu mir. Niemand beachtet mich. Ich bin ein Geist.
Auf dem anderen Bett sitzt Emma Isherwood in einem großen Herrenhemd, das ihren schwangeren Bauch kaschiert. Sie trinkt Rotwein, und ein weizenblonder junger Mann hält sie im Arm, spielt mit ihrem weichen, lockigen, langen Haar. Er hat einen Verlobungsring dabei. Er steckt in einer mit Samt ausgeschlagenen Schachtel in einer der Taschen seines Sakkos. Ich sehe durch ihn hindurch, spüre, dass er glücklich und nervös ist und die ganze Zeit gegen ein Gefühl der Unwirklichkeit ankämpfen muss: er und Emma.
Sie ist sein. Es spielt keine Rolle, dass die Reihenfolge der Ereignisse nicht ganz stimmt. Sie ist sein. Das ist das einzig Wichtige. Auch seine Eltern wissen das. Sie haben erkannt, wie das Glück in ihm erstrahlt. Sie unterstützen Emma und Leo, damit sie zusammenziehen und weiterstudieren können, wenn das Kind zur Welt gekommen ist. Es wird gut, das spürt er. Es könnte gar nicht besser sein.
Ihre Wange ist so weich, so weiß. Wie ein Blütenblatt. Das Kind in ihr bewegt sich. Emma rückt näher und lehnt sich sanft an ihn, so dass die merkwürdigen kleinen Bewegungen in seinem Körper nachhallen.
Es ist Emmas und seine Verlobungsfeier. Und ihr Auszugsfest aus dem Wohnheim. Der Ring passt nicht an ihren Finger. Durch die Schwangerschaft hat sie ein wenig Wasser eingelagert. Wie sehr sie gelacht haben. Ihm brach der Schweiß aus, und schließlich sagte Emma, wir geben auf, das macht nichts, ich trage ihn bis nach der Geburt an einer Kette um den Hals. Das macht nichts, überhaupt nichts.
Die Musik aus dem Kassettenrekorder ist gerade so laut, wie sie es sich erlauben können. Man muss schließlich auf die Bewohner der anderen Stockwerke Rücksicht nehmen. Yazoo. Only you . Harriet und Mary tanzen allein, zerren ein wenig an den Jungs, aber es ist noch zu früh. Die Jungs brauchen mehr Wein und müssen die Diskussionen über Keats erst einmal satthaben, bevor getanzt werden kann. Die große, schmale Joanna sitzt vornübergebeugt auf dem kleinen Sofa und fingert an ihren vielen Armbändern herum. Sheridan Lawson sitzt auch dort, er fingert an Joanna herum. Man kann das verstehen. Sie ist gekleidet wie die anderen Mädchen. Kleines Spitzenkorsett, abgetragene Jeansjacke, Stretch-Minirock und ein Tüchlein um die wilde Mähne geschlungen. Genau wie diese taffe anglo-italienische Sängerin, die plötzlich überall zu sehen ist. Die mit der Lücke zwischen den Schneidezähnen, die ein wenig verderbt und gleichzeitig so unschuldig aussieht. Sie trägt eine Menge Plastikkruzifixe und Rosenkränze. Madonna? Ja, so heißt sie. Er muss über ihre gewagte Art lachen.
Emma passt jetzt in kein Spitzenkorsett mehr rein, aber sie könnte trotzdem nicht schöner sein. Sie leuchtet. Bevor er ihr begegnet ist, hat er eine Affäre nach der anderen gehabt. Er hat allen gehört. Jetzt gibt es nur noch Emma. Emma ist sein Ein und Alles. Er wünscht sich im Stillen, die anderen würden gehen, sich in ein anderes Zimmer verziehen. Er will einfach nur mit Emma allein sein. Seinen Kopf in ihren Schoß legen, ihr das Hemd aufknöpfen und mit ihren prallen Brüsten spielen, sich für immer in diesen Augenblick versenken.
Sheridan Lawson hat etwas gesagt, und die anderen kreischen begeistert, scharen sich um ihn. Leo Chesterfield reckt den Kopf. In Sheridans Hand funkelt etwas. Er hält den Gegenstand mit Respekt, als handele es sich um eine Kostbarkeit. Nein, als sei er gefährlich. Leo kann ein grünes Band erkennen und einen vergilbten kleinen Zettel, der daran baumelt. Sheridan hält sich den Zettel vor die Augen und liest laut und mit ernster Miene. Jemand hat alle Lampen ausgeschaltet, nur die Kerzen auf dem Couchtisch brennen. Die Flammen werden von den Weingläsern und Bierflaschen reflektiert.
»Hilf mir auf,
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