Abschiedskuss
einen Schluck. Mein Puls beschleunigt sich, und mein Mut wächst allmählich. Aber genügt das? Wie soll ich ihn nach dem fragen, wonach ich ihn fragen muss?
»Was für ein Gemälde hast du denn verkauft?«, erkundige ich mich, um Zeit zu gewinnen.
»Ach, so ein fürchterliches Ding«, sagt Jack, und es kommt mir so vor, als würde er meiner Frage ausweichen.
»Und an wen?«, will ich wissen.
»Die Saatchi-Gallery. Kennst du die?«
Ich deute eine vage Handbewegung an, die so viel heißt wie: Schon mal gehört, aber erzähl mehr.
»Charles Saatchi«, fährt Jack fort, »ist ein Pionier der Werbebranche. Unglaublich reich. Kunstsammler. Er unterstützt junge, vielversprechende Künstler, kauft ihnen gerne etwas ab … groteske und gewagte Werke. Er ist mit dieser Fernsehköchin verheiratet, Nigella.«
»Gratuliere«, sage ich.
Jetzt, jetzt, jetzt,
wag es einfach!
»Du, Jack«, sage ich, »was ganz anderes. Ich habe etwas, was … dir gehört, glaube ich.«
Wag es jetzt.
Ihr seid an einem öffentlichen Ort.
Was könnte schlimmstenfalls passieren?
Ohne zu zittern, schiebe ich die Hand in meine Tasche und ziehe das Messer mit seiner fleckigen Bandage hervor. Ich lege es zwischen uns, und dort liegt es wie eine stumme Anklage.
»Mein Palettenmesser«, sagt Jack. In seinem Tonfall liegt eine Frage. Ich betrachte seine Reaktion genau, bevor ich wieder das Wort ergreife. Er hat die Hände gefaltet, presst sie aneinander. Ich reiße mich zusammen.
»Es ist ziemlich scharf«, sage ich. »Gehört es wirklich dir?«
»Ich glaube schon«, sagt er gedämpft.
»Und dieser … Lumpen, oder wie man das nennen soll?«, sage ich und deute mit meiner Gabel auf den Slip. »Wo hast du den her?«
Er sagt nichts.
»Ich habe diese Dinge gefunden und … weiß nicht recht, was ich davon halten soll«, sage ich und schlucke. Vergebens versuche ich, mein zunehmendes Unbehagen zu verdrängen. Dennoch fahre ich fort: »Warum warst du in unserem Zimmer? Was ging in dir vor, als du bei wehrlosen Mädchen eingebrochen bist und in unserer Wäsche herumgewühlt hast? Warum hast du gestohlen und randaliert? Du brauchst verdammt noch mal Hilfe.«
Jack sieht aus, als sei er in eine Schlägerei geraten, mit der er nichts zu tun hat. Dann fasst er sich.
Seine Hände entspannen sich, und er lässt die Schultern sinken. Seine Augen funkeln schwarz. » Du bist diejenige, die Hilfe braucht«, sagt er. »Was fällt dir ein, mir all diesen Unsinn zu unterstellen?«
Weiter kommen wir nicht, denn der Kellner kehrt zurück und schiebt einen vergoldeten Wagen vor sich her, beladen mit dampfendem roten Tee, Scones, Marmelade und Sahne, kleinen dreieckigen belegten Broten und einer Etagere mit Tortenstücken, Petits Fours und sicher noch einer Menge anderer leckerer Sachen. Aber die sehe ich nicht mehr, denn ich habe den Tisch bereits verlassen.
26. Kapitel
Nikita und ich sitzen in dem viel zu grell beleuchteten Abendzug zurück nach Oxford nebeneinander und schweigen ermattet. Ich habe nicht die Kraft, gegen die Müdigkeit anzukämpfen, und gestatte mir ein Schläfchen. Ich sinke in mich zusammen und lehne mich an sie. Nur ganz leicht, so dass ich die Fasern ihres Mantels an der Wange spüre. Ihre schweren Lider sind ebenfalls geschlossen, und ich glaube nicht, dass sie etwas merkt.
Uns gegenüber sitzt Ashley, der uns amüsiert zulächelt, aber mir ist nicht danach zumute, sein Lächeln zu erwidern oder auch nur eine Braue hochzuziehen. Ich habe niemandem von Jack erzählt und frage mich, ob er im selben Zug sitzt, der sich nun durch die dunkle Landschaft heimwärts schlängelt. Ich frage mich, was er sieht. Ich frage mich, was er denkt.
Als wir den glatten Bahnsteig in Oxford betreten, leuchtet uns eine verzauberte weiche Nachtwelt entgegen, bei deren Anblick Nikita und Ashley aus dem Häuschen geraten wie kleine Kinder. Es hat fünf Zentimeter geschneit. Ich kann es nicht lassen, die Schritte zu verlangsamen, mich umzudrehen und mehrere Male auf den stillstehenden Zug zurückzublicken. Ich suche nach Jack. Aber keiner der Fahrgäste, die in Oxford aussteigen, ähnelt ihm.
Als ich meinen Kopf auf das Kopfkissen im Mill Creek Manor lege, kommt es mir vor, als würde es um mich herum im Zimmer weiter schneien. Ein tröstlicher und schützender Schneefall, der alle Geräusche und alle Fragen in meinem Kopf einhüllt und dämpft.
Dann beginnen die unerbittlichen Hände des Schlafes an mir zu ziehen, mich abwärts zu geleiten. Es ist, als
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