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Abschiedskuss

Abschiedskuss

Titel: Abschiedskuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amanda Hellberg
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Ahnung. Aber ich bin wie gesagt recht skeptisch, was unerklärliche Zusammenhänge betrifft. Gleichzeitig hat mich jedoch meine langjährige Erfahrung als Polizist gelehrt, dass es so etwas wie einen Instinkt gibt, einen siebten Sinn, oder wie man es nennen will. Und obwohl ich das Ganze eher kritisch sehe, kommt es in seltenen Fällen sogar vor, dass wir uns der Hilfe von …«
    Ein Polizist in Uniform unterbricht uns.
    »Jemand möchte zu Maja Grå.«
    »Durchlassen«, sagt King kurz.
    Ashley Morris taucht unter dem gestreiften Absperrband der Polizei durch. Seine Augen sind gerötet und geschwollen, und er umarmt mich fest, als ich aus dem Auto gekrochen komme.
    »Kann ich sie jetzt mit nach Hause nehmen?«, fragt er Inspektor King.
    »Natürlich. Passen Sie gut auf sie auf. Sie ist eine ganz besondere Frau.«

38. Kapitel
    Eine einsame Schneeflocke sinkt auf die schwarze Erde. Der Gärtner hat die abgestorbenen Pflanzen beseitigt und Kompost auf den Beeten verteilt, damit es im kommenden Frühling wieder blühen kann.
    Ashley und ich sitzen im Café des Botanical Garden, trinken Tee und schauen hinaus in den kühlen Vormittag. Vor dem viktorianischen Gewächshaus haben die Oxforder Biologiestudenten einen riesigen Weihnachtsbaum aufgestellt, der wie immer mit Früchten und Pflanzenteilen aus eigenem Anbau, aus der Orangerie und aus dem Tropenhaus geschmückt ist: mit den Beeren der Steineiche, mit der gekräuselten Rinde des Zimtbaums und mit getrockneten Zitrusscheiben, die wie Bernstein funkeln.
    Während ich so dasitze, vor mich hin starre und die Temperatur draußen immer weiter unter den Nullpunkt sinkt, geht mir etwas auf. Etwas Neues, das ich bislang nie durchdacht oder näher ins Blickfeld gerückt habe. Aber jetzt wird es klarer. Als hätte mir jemand geholfen, einen Scheinwerfer auf ein seltsames Rätsel zu richten.
    Ich erhielt meine Fähigkeiten nicht damals, als ich als kleines Kind ein Thermometer zerbiss und vielleicht eine mikroskopische Menge Quecksilber in mich aufnahm. Nein. So war es nicht. Das Ganze hat nichts mit irgendeinem äußeren Einfluss zu tun. Das habe ich mir anschließend nur so zurechtgelegt, es war der Versuch eines Kindes, das Unbegreifliche zu erklären. Meine Zerbrechlichkeit oder Empfindsamkeit oder wie immer man es nennen will. Es ist eine ererbte Fähigkeit. Mama wusste das. Ich habe dasselbe Erbgut wie sie.
    Aber warum konnte ich dann Nikita nicht retten? Warum musste sie geopfert werden? War ihre Zeit gekommen, Chesterfields dagegen noch nicht? Es fällt mir schwer, diese Ungerechtigkeit zu akzeptieren. Ich habe meinen Tränen in den letzten Tagen so freien Lauf gelassen, dass ich kaum bemerke, wenn sie wieder zu fließen beginnen. Warme Rinnsale auf den Wangen. Ich wische sie nicht weg. Es ist unmöglich zu begreifen, ich sehe nicht den Sinn, den größeren Zusammenhang. Vielleicht wird mir das auch nie gelingen.
    Mama. Ich denke an deinen einsamen Pfad. Hast du ihn beschritten, weil du glaubtest, mir auf diese Weise den rechten Platz im Dasein zuweisen zu können? Hast du mich deswegen im Stich gelassen? Das sind unbegreifliche Gedankengänge. Sie zerreißen mir das Herz. Alles verschwimmt. Ich sehe ein, dass solche Gedanken absurd sind. Ich werde den Dingen nicht weiter auf den Grund gehen.
    Vor dem Fenster schlendern immer noch einzelne Studenten über die Magdalen Bridge, aber die meisten sind über Weihnachten nach Hause gefahren, und die Einheimischen können ungestört ihre letzten Weihnachtseinkäufe erledigen. Ash hat einen mit Puderzucker bestäubten Fruit Pie bestellt. Ein kleines Mädchen geht an unserem Tisch vorbei und schielt sehnsüchtig auf seinen Teller.
    Ich kehre in Gedanken zu dem Kind zurück, das gelernt hat, seine Umgebung als »schön« und »hässlich«, »wirklich« und »unwirklich« zu beurteilen und zwar mit Hilfe jener Bezugspersonen, die seine Eltern waren. Aber wenn diese Bezugspersonen dem Kind in einem prägenden Alter wie der Vorpubertät entzogen werden? Was geschieht dann mit einem Kind, wie ich es damals war? Wenn man es einfach sich selbst überlässt?
    Was geschah mit mir? In mir? Jetzt erkenne ich es. Ich habe mir meine eigenen Urteile gebildet damals. Aus meinen eigenen Fähigkeiten heraus. Auf mich selbst angewiesen, in diesem einsamen Vakuum, in dem es nur einen elementaren Werkzeugsatz gab, mit dem ich mein Ich und mein Dasein gestalten konnte. Auf diese Weise erhielt ich vielleicht den Spielraum, um meine Eigenart zu

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