Abschiedskuss
wieder. Meine Hand gleitet flach über den Hals und untersucht die Spalte hinter dem Ohrläppchen. Die Fingerspitzen fahren kreisend über die Flaumhärchen der Schläfen, folgen dem geschwungenen Lauf der Brauen und finden dazwischen die feuchte Stirn, kalt, als würde sie nicht dazugehören, als hätte sie nichts mit mir zu tun. Ich lege die Hand auf mein Gesicht, so dass sich die Nasenspitze in die Handfläche bohren müsste, aber das tut sie nicht. Es ist nicht mein Gesicht. Dieses Gesicht gibt es nicht.
Kraftlose Regentropfen prallen an die Fensterscheibe. Ich wage endlich wieder die Augen zu schließen. Der Morgen ist so nah, und ich bin so müde. Hinter geschlossenen Lidern sehe ich Rinnsale aufsteigenden Regens. Rinnsale, die emporschießen wie schnellwüchsige Keime, die einer unsichtbaren Unebenheit im Glas ausweichen und aufgrund einer Laune der Oberflächenspannung einen Umweg einschlagen. Aber von unten nach oben und nicht so, wie es sein soll.
Ich kneife die Augen zusammen und sehe in eine Landschaft hinter dem Regen. Nein, in ein Gemälde. Wieder dieses suggestive Kahlo-Gemälde. Ich befinde mich mitten darin, verborgen hinter den kulissenartigen Baumstämmen. Kraftlose Farben und ein Spritzer Terpentin. Ich kann den kleinen Hirsch auf der Erde sehen, von Pfeilen durchbohrt, aber ich sehe ihn von hinten, als würden wir beide, sowohl das verletzte Tier mit seinem menschlichen Kopf und dem langen Frauenhaar als auch ich, aus der Landschaft herausschauen. Das Gesicht ist vor mir verborgen, aber ich spüre, dass der Hirschkuhkörper noch atmet, obwohl ich mit der absurden Selbstverständlichkeit des Traums weiß, dass er tödlich verletzt ist. Irgendwie verstehe ich auch, dass es sich, trotz des langen dunklen Haares, nicht um den Kopf der mexikanischen Künstlerin handelt, sondern um eine andere, mir sehr bekannte Person. Meine Zimmergenossin.
Aber diese Frauengestalt ist ein Blendwerk. Eine Betrügerin. Nicht die, die sie mich glauben machen will.
Das Haar. Das Haar ist der Schlüssel. Es ist falsch. Eine falsche Spur, damit ich das Falsche sehe. Der Kopf auf dem Hals der Hirschkuh dreht sich langsam zur Seite. Das Auge sucht nach mir. Ich kann ihr hässliches Halbprofil sehen. Das ist nicht Nikita. Nicht die Nikita, die ich kenne.
Ich erwache mit trockenem Mund und klopfendem Herzen. Ein inneres Warnsignal schrillt gegen die Trommelfelle, und die Botschaft ist deutlich.
Mama war wieder bei mir, denn die kleine Lampe im Fenster brennt mit mildem gelbem Schimmer.
»Danke«, flüstere ich in das stille Zimmer, ehe ich den Mantel vom Haken reiße und nach draußen stürze.
35. Kapitel
Während ich durch die stillen Korridore von Mill Creek Manor eile, spüre ich, wie das Dröhnen aus meinem Kopf nach außen dringt und die Wände um mich herum vibrieren lässt. Die Wandfarbe um mich herum beginnt abzublättern, bis ein großes Graffito zum Vorschein kommt: eine Flammenschrift, meterhohe Buchstaben, die sich an den Wänden des gesamten Gebäudes entlangziehen.
DER FEIND IST MITTEN UNTER UNS
DER FEIND IST MITTEN UNTER UNS
DER FEIND IST MITTEN UNTER UNS
Ich weiß nicht, wie ich die Treppen überwinde, es kommt mir vor, als würde ich sie wie ein Panther mit einem Satz herabspringen. Der Nachtportier sitzt dösend in der Pförtnerloge und nimmt keine Notiz von mir, als ich vorbeirenne. Vielleicht nimmt er mich auch nur als gewaltige Zugluft wahr.
Oxfords Straßen sind menschenleer und sogar für die Morgendämmerung eines bewölkten Dezembertags ungewöhnlich dunkel. Ich sehe keine einzige brennende Straßenlaterne. Offenbar ist großflächig der Strom ausgefallen. Das Gefühl der Bedrohung hat sich mir wie ein Eisenring um die Brust gelegt, und ich habe Mühe zu atmen. Ich muss meine aufkeimende Panik in den Griff bekommen.
Ein Fahrrad. Ich schaffe das nicht ohne Fahrrad. Ich bleibe einen Augenblick stehen, lehne mich an den Zaun, der Mill Creek Manor umgibt, und starre wild die Straße entlang. Eine Menge Räder stehen auf dem Bürgersteig.
Nun werde ich ja sehen, wie es um meine hellseherischen Fähigkeiten bestellt ist, denke ich mit knapp unterdrückter Hysterie.
Das vierte Fahrrad, das ich vom Zaun zerre, ist tatsächlich nicht abgeschlossen. Als ich in die Dunkelheit radele, kommt es mir vor, als würde sich ein Spalt in einem schwarzen Samtvorhang öffnen. Ich schiebe mich hindurch, und die schwarze Nacht hinter mir schließt sich wieder.
Ich lasse das Fahrrad vor der Mauer der Akademie
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