Abseitsfalle. Kadir Bülbüls zweiter Fall
zurückkehrten, erinnerte kaum noch
etwas an den Ort, den sie verlassen hatten. Anders als sein Bruder verurteilte
Nazmi die Veränderungen, die der Tourismus gebrachte hatte, jedoch nicht. Die
Einheimischen fanden nun Arbeit, und manchmal dachte sich Nazmi, dass es schön
gewesen wäre, wenn er etwas später das Licht der Welt erblickt hätte. Er hätte
nicht auswandern müssen, allerdings hätte er dann auch viele Erfahrungen nicht
machen können, die er im Rückblick sehr schätzte. Nur dass seine Töchter Sevda
und Aylin in Köln geblieben waren, daran mochte er sich nicht gewöhnen, und
auch wenn er es vor seiner Frau nicht zugab, so fühlte er sich doch oft
schuldig, wenn sie seufzend über die Fotos ihrer Enkel, die sie als Waisenenkel
betitelte, strich, die fern von ihrer nene aufwuchsen. Dass sein Sohn
seine Karriere bei der Kölner Polizei aufgegeben hatte, um mit seinen Eltern in
ihren Heimatort zurückzukehren, hatte Nazmi tief gerührt und gefreut. Doch auch
hier fühlte er sich oft schuldig, und wenn er nachts wach lag, weil der Wind
gegen die Fenster rüttelte, fragte er sich wieder und wieder, ob das Opfer
seines Sohnes nicht zu groß gewesen war. Unruhig wälzte er sich von einer Seite
zur anderen, bis ihm einfiel, wie oft Kadir betont hatte, dass er glücklich und
zufrieden sei, und dass nichts in der Welt ihn bewegen könnte, Dereköy gegen
einen anderen Ort auf der Welt auszutauschen, und Nazmi schlief zufrieden
wieder ein.
Für
Kadir ist es genug, mit einer Kerze in der Hand seinen Weg zu suchen, dachte
Nazmi und betrachtete seinen Sohn, der Teegläser auf ein Tablett stellte. Ich
muss mir wirklich keine Sorgen um sein Wohlbefinden machen!
»Du
hast ja für eine ganze Fußballmannschaft gekocht, anne !«, sagte Kadir,
als er mit seinen Eltern im Wohnzimmer saß und Tee einschenkte.
»Nun,
dein Vater hat mir erzählt, dass eine Fußballmannschaft in deinem Hotel wohnt.«
»Aber
sie werden deshalb noch lange nicht bei mir essen.«
»Unsinn, bebegim , das habe ich auch nicht angenommen, hältst du deine arme, alte
Mutter zum Narren? Aber du musst doch jetzt sicherlich aufpassen, dass sie
nichts anstellen, oder nicht? Und wie anstrengend stelle ich es mir vor, so
viele Jungen zu beaufsichtigen, die den ganzen Tag nur Flausen im Kopf haben,
die immerzu rennen, hüpfen und springen und euren schönen Rasen im Hotel kaputtmachen!«
»Aber
Latife, ich habe es dir doch erklärt«, mischte sich Nazmi ein. »Kadir muss
nicht aufpassen, dass die jungen Männer etwas anstellen, sondern dass niemand etwas
mit ihnen anstellt. Das sind Stars, die haben viele Anhänger, Menschen,
die ihnen nahe kommen wollen, Reporter, die unerlaubt Fotos machen. Du kennst das
doch aus deinen Illustrierten!«
»Papperlapapp!
Du kannst eine Prinzessin doch nicht mit einem Mann vergleichen, der über einen
hässlichen Rasen läuft, andere böse zu Boden wirft und einen Ball in ein Netz
schmeißt. Für eine Prinzessin interessiert sich jeder, für einen Fußballer
niemand. Niemand. Kein Mensch will etwas über solche Leute wissen. Keiner.«
Energisch
nahm Latife ihre Handtasche vom Boden, knipste sie auf und zu und stellte sie
wieder ab. Dies war das Zeichen, dass das Thema für sie beendet war.
Kadir
zwinkerte seinem Vater zu. Nach all den Jahren waren die Erinnerungen an die
Demütigungen, die Latife durch den Fußballsport erlitten hatte, noch ebenso
frisch wie damals, als Latifes Kusine Fatma mit Mann und Sohn Devrim noch zu
Besuch nach Köln-Mülheim kommen durften. Die Familie der Kusine lebte in
Dortmund und dem Grundschullehrer war schnell Devrims immense Sportbegabung
aufgefallen. Er brachte den Jungen bei den Junioren des BVB unter, woraufhin
Latife ihren Mann vorschickte, um ein ernstes Wort mit Kadirs Lehrer zu
sprechen. Hatte der Junge nicht mindestens die gleiche, wenn nicht sogar eine
deutlich höhere Begabung? Das hatte er leider nicht. Er kickte gut, aber ohne
jeden Ehrgeiz und größeres Talent.
Fatma
saß fortan bei Latife im Wohnzimmer und ersparte ihr nicht ein einziges Detail
der illustren Entwicklung ihres Sohnes, während Devrim Kadir auf einem
brachliegenden Fabrikgelände neben der S-Bahn allerlei Tricks beibrachte. Für
den jüngeren Kadir war der strahlende, immer gut gelaunte Devrim ein Held, und so
war es selbstverständlich, dass Kadir seine glühende Verehrung auf dessen
Verein übertrug und sich fortan damit abfinden musste, auf dem Schulhof in die
Mangel genommen zu werden. Als Devrim
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