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Absender unbekannt

Absender unbekannt

Titel: Absender unbekannt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dennis Lehane
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auf die Akte. Er betrachtete sie und bewegte beim Lesen des Abschnitts über Rugglestones Wunden die Lippen. Als er mich wieder ansah, waren seine Gesichtszüge erschlafft, und sein Mund stand offen. „Sie haben recht“, sagte er leise. „Sie haben recht.“
„Dass dir das nicht zu Kopf steigt“, mahnte Devin mich. „Du Dreckskerl.“
„Ein Märchen“, flüsterte Bolton leise.
„Was?“
Wir saßen zusammen im Esszimmer. Die anderen waren in der Küche, wo Oscar seine berühmten Filetspitzen zubereitete. In der Dunkelheit hielt Bolton die Hände hoch. „Es klingt wie eine Geschichte von den Gebrüdern Grimm. Zwei Clowns, statt einer Höhle ein Lieferwagen, die Bedrohung der Unschuld.“
Ich zuckte mit den Achseln. „Damals hatte ich einfach nur Schiss.“ „Ihr Vater“, sagte er.
Ich sah, wie das Eis an der Fensterscheibe gefror.
„Sie wissen, worauf ich hinauswill“, fügte er hinzu.
Ich nickte. „Er muss derjenige gewesen sein, der Rugglestone verbrannt hat.“
„Stück für Stück“, ergänzte Bolton, „während der Mann schrie.“ Das Eis krachte und brach auseinander, sofort lief neuer Regen in die Spalten und bildete durchsichtige Eisadern.
„Ja“, bestätigte ich und dachte an den Kuss meines Vaters an dem Abend. „Mein Vater hat Rugglestone bei lebendigem Leib verbrannt. Stück für Stück.“
„War er dazu fähig?“
„Ich habe Ihnen schon gesagt, Agent Bolton, dass er zu allem fähig war.“
„Aber dazu?“
Ich erinnerte mich an meines Vaters Lippen auf meiner Wange, an das in ihm rauschende Blut, als er mich an seine Brust drückte, an die Liebe in seiner Stimme, als er sagte, er sei stolz auf mich. Dann dachte ich daran, wie er mit dem Bügeleisen auf mich losging, an den Geruch verbrannten Fleisches, der von meinem Bauch hochgestiegen war und mich erstickt hatte, während mich mein Vater mit einer Wut anstarrte, die an einen Rausch grenzte. „Er war nicht nur dazu fähig“, ergänzte ich, „es hat ihm wahrscheinlich sogar Spaß gemacht.“
Als wir im Esszimmer saßen und die Filetspitzen aßen, kam Erdham herein.
„Ja?“ fragte Bolton.
Erdham reichte ihm ein Foto. „Ich dachte, das sollten Sie sehen.“ Bolton wischte sich Mund und Finger mit einer Serviette ab und hielt das Foto ins Licht.
„Das ist eins von denen, die bei Arujo gefunden wurden. Richtig?“ „Ja, Sir.“
„Haben Sie die Leute darauf identifizieren können?“
Erdham schüttelte den Kopf. „Nein, Sir.“
„Warum soll ich mir das dann ansehen, Agent Erdham?“ Erdham blickte mit gerunzelter Stirn zu mir herüber. „Ich meine nicht die Leute, Sir, sondern wo es aufgenommen wurde.“ Bolton blinzelte das Foto an. „Ja?“
„Sir, wenn Sie…“
„Warten Sie kurz!“ Bolton ließ die Serviette auf seinen Teller fallen. „Ja, Sir“, sagte Erdham, das Zittern seines Körpers verbergend. Bolton warf mir einen Blick zu. „Das ist Ihr Haus.“
Ich legte die Gabel hin. „Wovon reden Sie?“
„Auf dem Foto ist die vordere Veranda Ihres Hauses zu sehen.“ „Wer ist drauf: Patrick oder ich?“ erkundigte sich Angie.
Bolton schüttelte den Kopf. „Eine Frau und ein kleines Mädchen.“ „Grace“, stieß ich hervor.

32
    Ich stand als erstes auf. Mit einem Handy am Ohr trat ich auf die Veranda hinaus, während mehrere Wagen des FBI kreischend die Strasse hochkamen.
„Grace?“
„Ja?“
„Alles in Ordnung?“ Ich rutschte auf dem Eis aus, hielt mich aber am Geländer fest. In dem Moment kamen Angie und Bolton nach draußen.
„Was? Du hast mich geweckt. Ich muss um sechs Uhr arbeiten. Wieviel Uhr ist es denn?“
„Zehn. Tut mir leid.“
„Können wir nicht morgen früh reden?“
„Nein. Nein. Ich möchte, dass du am Telefon bleibst und dabei alle Türen und Fenster überprüfst.“
Vor Angies Haus kamen die Autos schlingernd zum Halten. „Was? Was ist das für ein Krach?“
„Grace, überprüf alle Türen und Fenster, ob sie verschlossen sind.“ Ich arbeitete mich auf den rutschigen Bürgersteig vor. Die Bäume trugen schwere glänzende Eiszapfen. Strasse und Bürgersteige glänzten schwarz unter einer Eisschicht.
„Patrick, ich…“
„Guck jetzt nach, Grace!“
Ich sprang auf den Rücksitz des ersten Autos, ein dunkelblauer Lincoln, und Angie nahm neben mir Platz. Bolton setzte sich nach vorne und gab dem Fahrer Grace’ Adresse.
„Los!“ Ich schlug gegen die Kopfstütze des Fahrers. „Los!“ „Patrick“, fragte Grace, „was ist denn?“
„Hast du alle Türen zu?“
„Ich gucke gerade

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