Absender unbekannt
keine Ahnung, wovon du sprichst…“
Sie legte auf.
Einen Moment lang starrte ich das Telefon an. Dann atmete ich ein paarmal tief durch und rief erneut an.
„Was ist?“ fragte sie.
„Leg nicht auf!“
„Hängt davon ab, wieviel Blödsinn du mir erzählst!“
„Grace, ich kann nicht antworten, wenn ich gar nicht weiß, was ich verbrochen habe.“
„Bin ich in Gefahr?“ fragte sie.
„Wovon redest du da?“
„Beantworte meine Frage: Bin ich in Gefahr?“
„Soweit ich weiß, nicht.“
„Und warum lässt du mich dann bewachen?“
Mir lief es eiskalt den Rücken herunter.
„Ich lasse dich nicht bewachen, Grace.“
Evandro? Kevin Hurlihy? Der geheimnisvolle Mörder? Wer? „Blödsinn“, gab sie zurück. „Dieser Irre mit dem
Trenchcoat ist doch nicht von alleine auf diese Idee gekommen und hat…“
„Bubba?“
„Du kennst Bubba verdammt genau.“
„Grace, wart doch mal. Erzähl mir jetzt genau, was passiert ist.“ Sie atmete langsam aus. „Ich war mit Annabeth und meiner Tochter
– meiner Tochter, Patrick! – in St. Botolph essen, und an der Theke saß ein Typ, der mich die ganze Zeit anstarrte. Und zwar nicht gerade unauffällig, na, egal, aber es war auch nicht gerade einschüchternd. Und dann…“
„Wie sah der Typ aus?“
„Was? Na, er sah aus wie Frankenstein vor der Schönheitsoperation: groß, leichenblass, grässliches Haar, langes Gesicht, riesiger Adamsapfel.“
Kevin. Dieses Schwein. Ein paar Meter von Grace, Mae und Annabeth entfernt.
Dachte darüber nach, wie er ihnen das Rückgrat brechen würde. „Ich bring ihn um“, flüsterte ich.
„Was?“
„Erzähl weiter, Grace, bitte!“
„Zum Schluss nimmt er sich ein Herz, steht auf und kommt zu uns an den Tisch, wollte wahrscheinlich irgendeine lächerliche Anmache loswerden, aber in dem Moment kommt dein klapsmühlenreifer Freund wie aus dem Nichts herangeschossen und zerrt ihn an den Haaren aus dem Lokal. Vor über dreißig Leuten hat er den Typen mit dem Gesicht mehrere Male gegen einen Hydranten gehauen.“ „Oje“, entfuhr es mir.
„Oje?“ wiederholte sie. „Mehr hast du dazu nicht zu sägen? Oje? Patrick, der Hydrant stand genau vor dem Fenster, wo wir saßen. Mae hat alles mit angesehen. Er hat das Gesicht von dem Typ vollkommen demoliert, und sie hat zugeguckt. Sie hat den ganzen Tag geweint. Und dieser arme, arme Mann…
„Ist er tot?“
„Das weiß ich nicht. Ein paar Freunde von ihm kamen mit dem Auto vorbei und haben ihn weggefahren und dieser… dieser verfluchte Irre hat sich mit so einem mickrigen Henkersknecht einfach danebengestellt und zugeguckt, wie sie den Mann ins Auto geladen haben und weggefahren sind.“
„Dieser arme Mann, Grace, ist ein Auftragsmörder der irischen Mafia. Er heißt Kevin Hurlihy und hat mir heute morgen gesagt, er würde dir weh tun, um mir das Leben zu versauen.“
„Das soll wohl ein Witz sein!“
„Wäre mich auch lieber.“
Ein langer, drückender Moment des Schweigens trat ein. „Und jetzt?“ fragte Grace schließlich. „Jetzt muss ich damit klarkommen? Und meine Tochter auch, Patrick? Meine Tochter soll auch damit klarkommen?“
„Grace, ich…“
„Was?“ rief sie. „Was, was, was? Ha? Dieser Irre im Trenchcoat, soll der etwa mein Schutzengel sein? Soll ich mich etwa sicher fühlen mit dem?“
„Irgendwie ja.“
„Du hast mir das eingebrockt. Diese Gewalt. Du… O Mann!“ „Grace, hör zu…“
„Ich ruf dich später noch mal an“, sagte sie mit leiser, weit entfernter Stimme.
„Ich bin bei Angie.“
„Was?“
„Ich übernachte hier.“
„Bei Angie“, wiederholte sie.
„Sie ist möglicherweise die nächste Zielscheibe des Mannes, der Jason Warren und Kara Rider umgebracht hat.“
„Bei Angie“, sagte sie noch einmal. „Ich ruf später vielleicht noch mal an.“
Dann legte sie auf.
Ohne sich zu verabschieden, ohne zu sagen, „pass auf dich auf“. Nur ein „Vielleicht“.
Sie ließ sich mit dem Anruf zweiundzwanzig Minuten Zeit. Ich saß am Tisch, betrachtete so lange die Fotos von Hardiman, Rugglestone und Cal Morrison, bis sie vor meinen Augen zu einem einzigen verschwammen. In meinem Kopf nagten die immer gleichen Fragen, und ich wusste, dass die Antworten vor mir lagen, dass sie nur ein wenig außerhalb meines Gesichtsfeldes schwebten.
„Hi“, grüsste sie mich.
„Hi.“
„Wie geht’s Angie?“ erkundigte sie sich.
„Sie hat Angst.“
„Kann ich verstehen.“ Sie seufzte in den Hörer. „Wie geht’s dir, Patrick?“
„Ganz gut
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