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Absender unbekannt

Absender unbekannt

Titel: Absender unbekannt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dennis Lehane
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das seit 1962 erschien.
Das Bild stammte aus einer überschwenglichen Reportage über Nachbarschaftshilfe vom 12. Juni 1974. Unter der Überschrift NACHBARN ÜBERNEHMEN VERANTWORTUNG schwärmte der Artikel von den kühnen Heldentaten des EES, aber auch von der Adams-Corner-Nachbarschaftshilfe aus Neponset, von dem Gemeindebund Savin Hill, der Initiative „Bürger gegen Gewalt“ aus Field’s Corner und von der Gruppe „Bürgerstol“ in Ashmont. Im dritten Absatz wurde mein Vater zitiert: „Ich bin Feuerwehrmann, und Feuerwehrmänner wissen ganz genau, dass man ein Feuer in den unteren Stockwerken aufhalten muss, sonst gerät es außer Kontrolle.“
„Dein Alter hatte ein Naschen für treffende Formulierungen“, meinte Oscar. „Schon damals.“
„Das war einer seiner Lieblingssprüche. Den hat er jahrelang geübt.“
Fields hatte das Foto der EES-Mitglieder vergrößert; dort standen sie auf dem Basketballfeld am Ryan-Spielplatz und versuchten, gleichzeitig entschlossen und freundlich zu wirken.
Mein Vater und Jack Rouse knieten in der Mitte des Bildes links und rechts von einem EES-Schild mit Kleeblättern in den oberen Ecken. Beide sahen aus, als posierten sie für Football-Sammelbildchen, als ahmten sie die typische Stellung von Defensive Linemen nach: die Fäuste auf den Boden gestützt, die Hände am Schild.
Hinter ihnen stand Stan Timpson in jungen Jahren, er trug als einziger eine Krawatte, von links nach rechts gefolgt von Diedre Rider, Emma Hurlihy, Paul Burns und Terry Climstich.
„Was ist das da?“ fragte ich und zeigte auf einen kleinen schwarzen Fleck rechts neben dem Foto.
„Der Name des Fotografen“, erwiderte Fields.
„Können wir das irgendwie vergrößern, damit wir es lesen können?“ „Hab ich schon gemacht, Mr. Kenzie.“
Wir blickten ihn an.
„Das Bild hat Diandra Warren aufgenommen.“
Sie sah aus wie der Tod.
Das Gesicht war kalkweiß, ihre Kleidung zerknittert.
„Erzählen Sie mir vom Edward-Everett-Schutzverein, Diandra. Bitte!“ forderte ich sie auf.
„Von wem?“ Mit verquollenen Augen sah sie mich an. Es kam mir vor, als stände jemand vor mir, den ich als jungen Menschen gekannt, aber seit vielen Jahren nicht mehr gesehen hatte, und nun musste ich erkennen, dass die Zeit ihn nicht nur aufgerieben, sondern gnadenlos verbraucht hatte.
Ich legte das Foto vor ihr auf die Theke.
„Ihr Mann, mein Vater, Jack Rouse, Emma Hurlihy, Diedre Rider.“ „Das war vor fünfzehn oder zwanzig Jahren“, winkte sie ab. „Zwanzig“, korrigierte Bolton.
„Warum haben Sie meinen Namen nicht erkannt?“ fragte ich. „Sie kannten meinen Vater.“
Leicht legte sie den Kopf zur Seite und sah mich an, als hätte ich gerade behauptet, sie wäre meine verschollene Schwester. „Ich habe Ihren Vater nicht gekannt, Mr. Kenzie.“
Ich zeigte auf das Foto. „Da ist er, Dr. Warren. Nur wenige Zentimeter von ihrem Mann entfernt.“
„Das ist Ihr Vater?“ Sie betrachtete das Bild.
„Ja. Und das da neben ihm ist Jack Rouse. Und links hinter ihm steht Kevin Hurlihys Mutter.“
„Ich…“ Sie beäugte die Gesichter. „Ich kannte diese Leute nicht namentlich, Mr. Kenzie. Ich habe das Foto gemacht, weil Stan mich darum gebeten hatte. Dieser alberne Verein war seine Sache, nicht meine. Ich habe sogar verboten, dass sie sich bei uns zu Hause trafen.“
„Warum?“
Sie seufzte und winkte abfällig mit der Hand. „Dieses ganze Machogehabe unter dem Vorwand der Nächstenliebe. Das war einfach albern. Stan wollte mich davon überzeugen, wie gut das in seinem Lebenslauf aussehen würde, aber er war nicht besser als die anderen: Man gründe eine Straßengang und nenne das Ganze Nachbarschaftshilfe.“
Bolton mischte sich ein: „Aus unseren Aufzeichnungen geht hervor, dass Sie im November 1974 die Scheidung von Mr. Timpson beantragten. Warum?“
Sie zuckte mit den Achseln und gähnte hinter vorgehaltener Hand. „Dr. Warren?“
„Mein Gott!“ stieß sie aus. „Mein Gott.“ Dann blickte sie zu uns auf, und einen kurzen Moment lang kehrte das Leben in ihr Gesicht zurück, doch genauso schnell war es wieder verschwunden. Sie ließ den Kopf in die Hände sinken, Haarsträhnen lösten sich und fielen ihr über die Finger.
„In dem Sommer zeigte Stanley sein wahres Gesicht. Im Grunde seines Herzens war er ein Katholik, überzeugt von seiner moralischen Überlegenheit. Er kam mit Blut an den Schuhen nach Hause, weil er einen armen Autodieb getreten hatte, und wollte mir erzählen, das wäre

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