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Absender unbekannt

Absender unbekannt

Titel: Absender unbekannt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dennis Lehane
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eine Zigarette an. Im Licht der Flamme konnte ich kurz erkennen, wie abgespannt und verängstigt sie aussah. „Es wird alles gut“, beruhigte ich sie.
Sie zuckte mit den Achseln. „Ja, klar.“
„Die haben ihn, wenn er nur in die Nähe dieses Hauses kommt.“ Noch ein Achselzucken. „Ja, klar.“
„Ange, er kriegt dich nicht.“
„Bis jetzt war seine Trefferquote ziemlich hoch.“
„Aber wir sind darauf spezialisiert, Menschen zu beschützen, Ange. Wir können uns doch gegenseitig schützen.“
Sie blies eine Wolke Rauch aus. „Erzähl das mal Jason Warren!“ Ich legte meine Hand auf ihre. „Als wir den Fall niedergelegt haben, wussten wir nicht, womit wir es zu tun hatten. Jetzt schon.“ „Patrick, bei dir ist er auch reingekommen.“
Ich hatte nicht vor, in diesem Moment darüber nachzudenken. Seitdem Fields die Aufnahmegeräte in die Höhe gehalten hatte, saß der Schock bei mir tief.
Ich begann: „Bei mir stehen aber nicht fünfzig FBI-Männer…“ Sie drehte die Hand, so dass unsere Handflächen aufeinanderlagen, dann umfasste sie mein Handgelenk. „Er entzieht sich jeder Logik“, stellte sie fest. „Evandro. Er ist… man kann ihn mit nichts vergleichen. Er ist kein Mensch, er ist eine Naturgewalt, und wenn er mich unbedingt haben will, dann schafft er das auch.“ Heftig zog sie an ihrer Zigarette; die Asche glomm auf, und ich sah die tiefen Ränder unter ihren Augen.
„Er kann nicht…“
„Psst“, machte sie und zog ihre Hand zurück. Dann drückte sie die Zigarette aus und räusperte sich. „Ich will nicht, dass du mich für einen Feigling hältst oder für eine schutzbedürftige kleine Frau, aber ich möchte jetzt festgehalten werden, und ich…“
Ich stand auf und kniete mich zwischen ihre Beine; sie umarmte mich, drückte ihre Wange gegen meine und grub mir die Finger in den Rücken.
Dann flüsterte sie mir etwas ins Ohr: „Wenn er mich umbringt, Patrick…“
„Er wird dich…“
„Wenn aber doch, dann musst du mir etwas versprechen.“ Ich wartete, während ich die Angst durch ihre Brust rasen spürte. „Versprich mir, dass du so lange am Leben bleibst, bis du ihn umgebracht hast! Langsam. Wenn möglich, zieh es über ein paar Tage hin!“
„Und wenn er mich vorher erwischt?“
„Er kann uns nicht beide umbringen. Das schafft keiner. Wenn er dich zuerst erwischt“ – sie lehnte sich ein wenig zurück, damit sie mir in die Augen sehen konnte –, „dann streiche ich dieses Haus mit seinem Blut. Jeden Zentimeter.“
Einige Minuten später ging sie zu Bett; ich knipste eine kleine Lampe in der Küche an und ging die Akten durch, die Bolton mir über Alec Hardiman, Charles Rugglestone, Cal Morrison und die Morde von 1974 gegeben hatte.
Sowohl Hardiman als auch Rugglestone sahen erschreckend normal aus. Das einzig Auffällige an Alec Hardiman war, wie schon bei Evandro, sein gutes Aussehen, er wirkte fast weiblich. Doch gibt es viele schöne Männer auf der Welt, und nicht alle wollen über andere Menschen herrschen.
Rugglestone mit seinem hohen Haaransatz und dem langen Gesicht sah eher wie ein Grubenarbeiter aus Westvirginia aus. Er wirkte nicht gerade freundlich, aber wie ein
Mann, der Kinder kreuzigte und Pennern den Bauch aufschlitzte, sah er auch nicht aus.
Die Gesichter sagten mir rein gar nichts.
Menschen kann man nicht ganz verstehen, man kann nur auf sie reagieren, hat meine Mutter einmal gesagt.
Sie war fünfundzwanzig Jahre lang mit meinem Vater verheiratet gewesen, also wird sie wohl einiges an Übung darin gehabt haben. Ich musste ihr zustimmen. Ich hatte Hardiman kennengelernt, hatte gelesen, wie er über Nacht von einem kleinen Engel zu einem Teufel wurde, aber eine Erklärung dafür gab es nicht.
Über Rugglestone war noch weniger bekannt. Er hatte in Vietnam gekämpft, war ehrenvoll entlassen worden, kam von einer kleinen Farm im Osten von Texas und hatte zum Zeitpunkt seines Todes seit über sechs Jahren keinen Kontakt mehr zu seiner Familie gehabt. Seine Mutter wurde mit dem Ausspruch zitiert: „Er war ein guter Junge.“
Ich blätterte weiter in der Rugglestone-Akte und fand die Zeichnung des leeren Lagerhauses, in dem Hardiman ihn so unsäglich zugerichtet hatte. Das Haus gab es nicht mehr, an der Stelle befanden sich nun ein Supermarkt und eine Reinigung.
Auf der Zeichnung konnte ich sehen, wo Rugglestones Leiche gefunden worden war, an einem Stuhl festgebunden, erstochen, geschlagen und verbrannt. Sie zeigte, wo Hardiman von Detective Gerry Glynn

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