Absolut WILD - Die Mini-Tiger sind los
und bellte wie verrückt. Mama kam herbeigelaufen, kraulte Mayo hinter den Ohren und nahm den Hörer ab.
»Hallo? Ja, hier ist Mrs Wild. Aus Kolumbien, sagen Sie?«
Tori und ich strahlten uns an. Papa konnte uns nur sehr selten von seinen Fotoreisen anrufen, weil er immer meilenweit von der Zivilisation entfernt war.
Dann geriet die Welt plötzlich aus allen Fugen. Mama plumpste auf einen Stuhl und umklammerte den Telefonhörer so fest, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten.
»Krank?«, sagte sie. »Heilige Muttergottes, wie schlimm ist es?«
6
Nichts ist in Ordnung
Es heißt, Sterben ist ein bisschen wie durch einen langen weißen Korridor gehen. Wenn das stimmt, dann hoffe ich, dass in diesem Korridor keine Neonlampen sind, die unter der Decke surren wie zornige Insekten. Und dass er nicht vom Hall Tausender Schritte von Menschen erfüllt ist, deren Gesichter von Leid und Schmerz gezeichnet sind. Ich hoffe, dass dort keine Kranken in Rollbetten an einem vorbeigeschoben werden, an denen Infusionen baumeln, während aus Plastikbeuteln irgendwelches Zeug durch Schläuche gepumpt wird. Ich möchte, dass es in meinem weißen Korridor einen Teppich gibt und ein Fenster mit flatternden, durchscheinenden Vorhängen, aus dem man eine Blumenwiese sieht und keine Autobahn.
Als wir Papas Krankenhauszimmer betraten, starrte ich erschrocken den zusammengeschrumpften Mann an, der dort mit mehreren Schläuchen an den Armen im Bett lag. Er war nur noch Haut und Knochen, und sein Gesicht war grauer als das eines Elefanten. Ich sah mich suchend um, weil ich dachte, wir hätten vielleicht das falsche Bett erwischt, doch in dem Raum gab es nur dieses eine.
»Ist er tot?«, fragte Tori sofort.
Ich bekam vor Schreck einen Schluckauf und schlug entsetzt die Hand vor den Mund.
»Nein«, sagte der großnasige Arzt, der neben dem Bett mit der Gestalt stand, die Papa sein sollte. »Er liegt im Koma. Aber wir sind optimistisch, dass er bald wieder zu sich kommt. Die kolumbianischen Ärzte haben das Problem gleich erkannt. Sie haben ihm die richtigen Medikamente gegeben und ihn in ein Flugzeug nach Hause gesetzt. Sie haben ihm wahrscheinlich das Leben gerettet.«
»Aber was ist das Problem?«, fragte Tori. Sie war noch weißer als Mama.
»Typ-1-Diabetes«, antwortete Doktor Nase.
»Ein Junge in der Grundschule hatte Diabetes«, sagte ich. »Der ist allerdings nicht ins Koma gefallen. Warum liegt Papa im Koma?«
»Diese Form der Zuckerkrankheit bekommen Erwachsene nur selten«, erklärte Doktor Nase. »Sie ist sehr gefährlich, wenn sie nicht behandelt wird. Wenn man sie nicht rechtzeitig erkennt, kann sie zum Tod führen.«
Vielen Dank, dachte ich, jetzt geht es mir schon viel besser! Plötzlich fiel mir ein, wie merkwürdig Papa an dem Tag gewesen war, als wir gehört hatten, dass Terry Tanner nicht ins Gefängnis musste. War das der Anfang gewesen? Er hatte so müde ausgesehen …
»Das wird schon wieder«, sagte Mama, nachdem Doktor Nase uns Papas Zustand ausführlich erklärt hatte. Sie drückte meine Hand so fest, dass ich fast kein Gefühl mehr in den Fingern hatte. Auf der anderen Seite von ihr stand Tori, deren Hand sie genauso quetschte wie meine. »Er wird aufwachen.«
»Er sollte aufwachen«, verbesserte Doktor Nase. »Trotzdem wird er immer Diabetiker bleiben. Diabetes ist unheilbar.«
Ich mochte Doktor Nase immer weniger. Was hatte das mit dem »sollte« zu bedeuten? Und wieso sagte er nur so negative Dinge? Hatte er keine guten Nachrichten für uns?
»Die gute Nachricht ist, dass euer Vater mit der richtigen Medikation ein normales Leben führen kann«, sagte der Doktor. »Er muss zwar seine Lebensweise und seine Ernährung ändern und sein Leben lang Medikamente nehmen, aber wenn er das alles tut, wird er nicht im Rollstuhl sitzen oder ans Bett gefesselt sein.«
Na also, dachte ich erleichtert, es ist also gar nicht so schlimm. Mit ein paar Pillen und anderem Essen ist Papa im Nu wieder der Alte.
»Er muss natürlich erst einmal aufwachen«, fügte der Doktor hinzu.
Und schon war unsere Stimmung wieder im Keller. Papa musste unbedingt aufwachen. Er musste es einfach. Mein Herz hatte nach diesem schrecklichen Tag schon einige Sprünge und jetzt brach es noch ein bisschen mehr. Das Schicksal war genauso grässlich wie Daniel Dingle. Es genügte ihm anscheinend nicht, uns damit zu drohen, dass uns die Tiger weggenommen wurden – jetzt hatte es auch noch Papa in seinen widerlichen Klauen.
Junge Tiger
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