Absolution - Roman
nach ist das eine Chance, die kein anderer haben wird. Wer kann sagen, was mit den Schriftstücken geschieht, wenn sie stirbt? Ihr Sohn hat sich schon unkooperativ gezeigt, da kann ich mir die Restriktionen vorstellen, mit denen er den Zugang zu Clares Schriftstücken nach ihrem Tod belegen wird. Entscheidend ist, das Buch vorher zu vollenden und herauszubringen.
Sie erzählt mir, dass sie bisher niemandem sonst diese Art Zugang gewährt hat. Noch nie hat jemand »durch die Veränderlichkeit ihrer Texte« die Autorin in ihrer Werkstatt gesehen, sagt sie. Ich weiß, dass ich auf vielfältige Weise nur benutzt werde, wie auch ich sie benutze, ungeachtet ihrer Verachtung für das Vorhaben. Ihr Ruf muss bedacht werden – die Biografie kann den nur stärken, genau wie meine Karriere. Das Projekt könnte mir eine ordentliche Professorenstelle einbringen, noch bevor ich vierzig bin. Das Geld spielt auch eine Rolle. Sie und ich, wir profitieren voneinander. Es ist eine beiden Seiten nutzende Beziehung.
Abgesehen vom Geld und von meiner Karriere gibt es da noch diese andere Sache. Die Angelegenheit, die ich bisher nicht den Mut hatte, zur Sprache zu bringen. Ich erlaube mir, in Fantasien zu schwelgen, mir vorzustellen, dass ich meine Jugend bei Clare und ihrem Mann in Kapstadt verbracht habe, in der Stadt, die immer Zuhause gewesen ist.
An den meisten Tagen essen wir mittags zusammen in ihrem Arbeitszimmer und ich stelle ihr Fragen zu den Manuskripten oder zu ihrem Leben, versuche dabei Schlüsselereignisse zu klären und eine detaillierte Chronologie herzustellen. Sie hat mir auch Zugang zu ihrer persönlichen Bibliothek gewährt, die Tausende von Bänden in Regalen überall im Haus umfasst und einen eigenen Katalog hat, der von Marie betreut wird, die, wie ich entdecke, eine ausgebildete Archivarin ist. Wenn ich auf einen ungewöhnlichen oder unerwarteten Titel stoße – Liddell Harts A Greater Than Napoleon: Scipio Africanus (1926) zum Beispiel –, frage ich Clare, ob sie das Buch gelesen hat. Oft kann sie es mit einer kryptischen Wendung zusammenfassen (»der todlangweilige indirekte Ansatz«, in diesem Fall). In anderen Fällen gibt sie zu, das Buch sei ein Geschenk gewesen oder ein Spontankauf und sie habe es nie aufgeschlagen. »Wer hat schon Zeit, alles zu lesen?«, sagt sie.
Es gibt ein paar Fotos im Haus – nur zwei von ihren Kindern, eins von jedem, obwohl das Foto von Laura aus der Kindheit stammt und das von ihrem Sohn Mark aus jüngerer Zeit. Er wirkt selbstgefällig und erfolgreich, doch auch zerzaust, überhaupt nicht wie Laura, bis auf sein blondes Haar und seinen hellen Teint. Zum ersten Mal habe ich ein Foto von Laura gesehen. Ich hätte sie nicht erkannt, streng mit Zöpfen und in Schuluniform, aber es kann natürlich niemand anders sein.
Von dem Zimmer, in dem ich arbeiten darf, führt ein Korridor in das Hauptgebäude. Er ist in der Farbe ungebleichter Knochen gestrichen und nur mit einer Stoffbahn dekoriert, die über die ganze Länge einer Wand führt. Wie die Farbgebung im gesamten Haus sind die Farben der Stoffbahn gedeckt: granitgrau, flachsfarben, eine Welle Ocker. In dem großen L-förmigen Wohnzimmer, das auf den Garten blickt, gibt es eine kleine Kunstsammlung, meist drittrangige holländische Meister, aber auch Gemälde von Cecil Skotnes und Irma Stern und eine Radierung von Diane Victor, auf der das Voortrekker-Denkmal so abgebildet ist, als wäre es in katastrophalem Zustand. In einer verschlossenen Glasvitrine steht eine schwarze Blechschachtel mit dem aufgeprägten Namen von Clares Vater, umgeben von dem, was wohl das Familiensilber ist.
Alle paar Tage werden Nahrungsmittel geliefert. Die Post kommt jeden Morgen. Manchmal bringt ein Kurier Kartons mit Büchern. Das Telefon klingelt nie. Ich habe Clare angeboten, mit ihr eine Ausfahrt zu machen, damit sie mal etwas anderes zu sehen bekommt, doch sie sagt, sie hat schon genug für ein ganzes Leben gesehen. Die Welt da draußen ist ihr mittlerweile zu viel. Der Garten, das Haus, ihre Arbeit werden ihren Geist für den Rest ihres Lebens beschäftigen. Sie zieht sich von der Welt zurück, sagt sie, vollständig. Und überhaupt, wenn sie wirklich ausgehen will, wird Marie sie fahren.
»Es ist wie eine Geschichte, die sie zu Beginn ihrer Laufbahn veröffentlicht hat«, sage ich zu Greg, »wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung.«
»Lies sie mir vor«, sagt er und kümmert sich um das Abendessen, während Dylan in seinem
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