Absturz
ganze Seite im ganzen Land! Ja! Jawohl! Der Meisterbrief! Dieser Brief war nicht mehr an Max adressiert, sondern an Jan Philipp Möller. Bis zu diesem Brief hatte der junge Mann Schriftsteller gespielt. Ab jetzt, sagte sich Jan Philipp Möller, war er einer.
Wie er sponsiert hatte, so wollte der junge Mann auch heiraten: Anders als die anderen. Schnell und schäbig, improvisiert und provisorisch, ostentativ arm, armselig und ungeschickt, so falsch wie möglich, die Eltern und die gesamte bürgerliche Gesellschaft so gut wie möglich vor den Kopf stoßend. Geringschätzig und abfällig heiraten! Ein Selbstherrlicher braucht keine andere Art von Herrlichkeit, im Gegenteil stört sie nur. Sich nur nicht gemein machen mit den Gemeinen! Eine Hochzeit wie ein Mittelfinger: kirchenfrei, krawattenfrei, sakkofrei, bloß im gelben Hemd mit den hochgekrempelten Ärmeln und den großen Schweißflecken unter beiden Achseln, auch die Braut nicht in weiß, sondern in einer Art Papagenakostüm. Die Arie von Papageno und Papagena wurde im Trauungssaal bei der Zeremonie statt eines Hochzeitswalzers in den Kassettenrekorder gelegt. Bis sechzig Sekunden vor dem Beginn der Trauung wusste niemand, wo der Bräutigam war. Der Bräutigam und sein Trauzeuge tranken noch ein Bier im Künstlerhauscafé. Er wollte auf gar keinen Fall zu früh kommen, um den Smalltalk mit seinen Eltern und seinen Schwiegereltern zu vermeiden. Die warteten und warteten ebenso wie die Braut. Bis heute ist es das Allerschlimmste für ihn, irgendwohin zu früh zu kommen und mit Menschen reden zu müssen, um Schweigen zu vermeiden. Wer zu früh kommt, den bestraft die Geschichte noch härter. Wer partout nicht zu früh kommen will, läuft immer Gefahr, zu spät zu kommen. Der junge Mann ist oft zu spät gekommen. Bei seiner Hochzeit ist er aber pünktlich gewesen, auf die Sekunde genau. Anderenfalls wäre nämlich die Braut gegangen, und die Hochzeit wäre geplatzt, sagte Alice später oft. Seine Alice hieß Emma. Sie ist aber geblieben. Leider stellte sich heraus, dass der Bräutigam sämtliche Dokumente und Papiere, die für die Trauung erforderlich waren, zu Hause vergessen hatte. Zum Glück – und um die Trauungsgäste nicht zu enttäuschen – machte der Standesbeamte eine Ausnahme, und die Trauung fand ohne Dokumente und Papiere statt. Ich bin dein dunkler Cherubim, du die Sphinx im schwarzen Kleid; wir sind beide bereit.
Bei der Ansprache des Standesbeamten hörte der Bräutigam natürlich weg, denn dem Standesbeamten sprudelte ja nur derselbe auswendig gelernte stereotype Quatsch aus dem Mund wie bei der Hochzeit davor und der Hochzeit danach, und er hatte gar nichts zu bedeuten. Die Hochzeit davor und die Hochzeit danach wurden wieder geschieden, statistisch gesehen. Der Bräutigam ließ den Standesbeamten reden und dachte sich: Wenn ich eine Ansprache brauche, halte ich mir selber eine, eine viel schönere und eine viel gescheitere und eine viel eindrucksvollere. Ich brauche aber keine. Ich lasse mir nichts sagen. Ich habe mir nie etwas sagen lassen, und ich werde mir nie etwas sagen lassen. Ich sage selber. Ich sage aus. Ich bin eine Aussage. Der junge Mann wachte aus seinem narzisstischen Allmachtsrausch während der Trauungszeremonie erst wieder auf, als ihn der Standesbeamte aufforderte, hier in dieser Zeile – und er zeigte mit dem Finger auf die Stelle des Formulars – Jan Philipp Möller zu schreiben. Der junge Mann schrieb in Blockbuchstaben JAN PHILIPP MÖLLER . Später dämmerte ihm, dass das seine Unterschrift sein sollte, was sie natürlich nicht war, weil man ja nicht mit Blockbuchstaben unterschreibt. Standesbeamte und Drogendealer versteht ein Jan Philipp Möller einfach nicht. Man kann sich fragen, ob eine Hochzeit ohne Identitätsausweise und Unterschrift eine reguläre Hochzeit ist und Jan Philipp und Emma Möller überhaupt rechtskräftig miteinander verheiratet sind. Umgekehrt kann man getrost antworten, dass ausgerechnet diese abenteuerlich mangelhafte Hochzeit die einzige Hochzeit im gesamten Bekanntenkreis des jungen Mannes ist, die bis heute nicht wieder geschieden ist. Emma hat eine Zeit lang gebraucht, um zu begreifen, dass dieses demonstrativ geringschätzige Auftreten ihres Mannes bei der Trauung nicht ihr, der Braut, sondern der Institution und der Farce galt. Die Hochzeitstafel fand im Tanzsaal eines heruntergekommenen Landgasthauses statt. Es gab (aus Kostengründen und aus Prinzip) keine Tischtücher und
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