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Absturz

Absturz

Titel: Absturz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gstaettner
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Schwächezustands mit rezidivierendem Erbrechen, wird unsicher. Ihm ist, als stünde es ihm nicht mehr zu, sich für jung auszugeben. Wäre außerdem geschäftsschädigend. Vielleicht wird eine innere Stimme ihm künden, er sei lange vor seiner Geburt auf dieser Welt gewesen, er werde lange nach seinem Tod auf der Welt sein, das biografische Intermezzo sei der anstrengendste Teil der Unternehmung. Er wird sich von den Menschen lösen, die um ihn sind, möglichst nicht zu neuen gehen. Er kann nicht mehr unter Menschen leben. Sie verhöhnen seine inneren Stimmen. Sie lähmen ihn, haben sich ihn zurechtgelegt nach eigenem Gutdünken. Um diesen moralischen Satz ranken sich Erinnerungen, Anekdoten; Inventur machen, eine erste Bilanz ziehen. Er wird feststellen, dass ausgerechnet in seinem Geburtsjahr die für ihn zuständige Aufbahrungshalle fertiggestellt worden ist, was soll da noch passieren? Er wird feststellen, dass sein Geburtstag genau auf den hundertsten Todestag von Nestroy fällt. Aber die Marktgesetze sehen für solche Fälle von Jubiläumsreinkarnation keine eigenen Paragrafen vor. Eine Fährte in die Kindheit legen: Wie ich zu Weihnachten ein Puppentheater geschenkt bekommen und als erste Produktion  Den Bösen Geist Lumpazivagabundus  einstudiert habe, später  Il Barbiere di Siviglia . Wie ich als Kind die Kindergartentante immer mit den intelligentesten Fragen meiner Generation drangsaliert habe: Wie kommen die Kerne in den Apfel und mit wie viel Stundenkilometern wachsen Neugeborene? Nach dem Erwachen aus der Vollnarkose für die Mandeloperation wollte ich schon als Sechsjähriger Kalbsgulasch mit Butternockerln, ich wollte immer nur Erwachsene ärgern. Da hat der Oberarzt bei der Visite gelacht und gefragt: »Ein Bier dazu?« Nein, Herr Doktor, Bier nicht, Bier ist bitter, Bier ist ein Verlierergetränk, das Nationalgetränk ist ein Niederlagengetränk! Die Kindergartentante ist später drogensüchtig geworden und gestorben, auch der Kinderarzt ist drogensüchtig geworden und gestorben, nur ich bin nicht drogensüchtig geworden, systemimmanente Verweigerung.
    Vielleicht war niemand bereits während seiner Gymnasialzeit so sehr davon überzeugt wie ich, dass er (ich) ein großer Dichter wird (werde). Die Freunde nicht. Die Eltern nicht. Die Lehrer nicht. Von den Experten einmal ganz zu schweigen. Ich hatte eine sogenannte wohlbehütete Kindheit zwischen Gartenzäunen, deshalb ist auch nichts außer mir aus mir geworden. Die Mutter aufarbeiten und den Vater bewältigen und den Großvater, von dem erzählt wird, er sei immer ohne Regenschirm nach Hause gekommen, wenn es unterwegs zu regnen aufgehört habe. Er sei aber immer mit Regenschirm nach Hause gekommen, wenn es unterwegs zu regnen begonnen habe. Er starb vor meiner Geburt und war im Übrigen niemals eingetragenes Mitglied irgendeiner Partei gewesen, wie niemand aus der Familie irgendwann einmal eingetragenes Mitglied irgendeiner Partei war, die Kirche ausgenommen, aber die Jenseitsfuchtel kandidiert ja nicht. Allerdings arbeitete die Mutter außer Haus und der Vater im Büro und ich war allein. Ich schaute aus dem Parterrefenster einer grauen Hauswand hinaus und in die gegenüberliegende graue Hauswand wieder hinein. Dazwischen verlief eine Straße, auf der dann und wann Autos fuhren, und die zählte ich. Viele, viele bunte Autos. Sonst war ich allein mit meinem kleinen Seelchen in mir. Also einmal die Seele plappern lassen nach Herzenslust. Wenn sie nur nicht so abgründig wäre und so trocken und so ernst, lyrisch, das heißt ohne Anfang und Ende. Die Lebenslüge des Mittelstands? Nein, besser ein nicht erwischbares Ich für den großen Wurf; Biografie: Auslage in Arbeit. Der Mensch ist ein Fleisch, das bald stinkt, ein Schifferl, das bald versinkt: Ein geschwisterlicher Fötus, der direkt aus der Mutter in die Restauranttoilette plumpst. Eine Tante, die sich in Neuseeland vom Balkon gestürzt hat. Eine andere Tante in Deutschland, die überhaupt nur aus Abschiedsbriefen besteht, aber einen Selbstmord nach dem anderen verhaut, Suicidus interruptus: Das sind Bilder! Das sind Geschichten! – wenn auch keine neuen Geschichten! Was ist schon neu? Das Neue ist alt! Das Neue ist uralt, das Neue wird immer älter! Neu wäre es auch nicht zu erzählen, ohne Geschichten zu erzählen. Es wimmelt von jungen Dichtern in Turnpatschen und Safarianzügen, die nur schreiben können, weil sie erstens kein Thema und zweitens keinen Vater haben. Wenigstens mein

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