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Absturz

Absturz

Titel: Absturz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gstaettner
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Vater hatte keinen Vater, wenigstens hatte ich keinen Großvater, vielleicht hat irgendein Großkritiker oder das deutsche Feuilleton doch ein Einsehen! Ich hatte keinen Großvater, Leute!!! Keinen einzigen!!! Wisst ihr, was das bedeutet??? Hört ihr mich??? Saftsäcke. Ein Thema entfernt im Übrigen das Schreiben vom Schreiben, Themen haben viele, aber die Gestalt der Worte widersetzt sich, verba tene, res sequentur –
    Du liebe Güte, was musste die arme intellektuelle Jugend früher theoretisch sein! Heute muss sie nur noch konsumieren –
    Und neunundsiebzig Millionen schalten einstweilen zu  Liebe Sünde  um.
    Mit dreißig Jahren kann man ohne Weiteres allmählich damit anfangen, sich mit allen möglichen Leuten zu zerstreiten. Mein Nachbar, den ich nur vom Hörensagen kenne, hält mich, habe ich mir von meiner Frau sagen lassen, für mürrisch. Die Gespenster da draußen halten mich für ein Gespenst. Aber was mich viel mehr interessiert: Schopenhauers Preisschrift  Über die Grundlage der Moral  wird nicht prämiert, obwohl sie die einzige Einsendung ist. Ich bin jetzt genau in dem Alter, in dem Schopenhauer  Die Welt als Wille und Vorstellung  geschrieben hat. Die erste Auflage dieser  Welt als Wille und Vorstellung  wird zur Hälfte wieder eingestampft. Die zweite erscheint Jahrzehnte später ohne Honorar für den Autor. Schopenhauer wohnte einmal in der Niederlagstraße, das würde ich auch gern, aber hier heißt keine Straße so, auch wenn alle so ausschauen. Meine Frau hält mir vor, dass ich ihr vorhalte, dass ich während Wimbledon und Steinwachs auch noch Teller wasche. Sie hält mir den restlichen Haushalt vor (wie es bei uns ausschaut!), dass wir uns keine Putzfrau leisten können, außerdem die generelle Existenz von Putz frauen , außerdem, dass wir uns überhaupt nichts leisten können. So geht es zu in unserer Mansarde, und die Spitzwegmansarde ist gar nichts im Vergleich mit unserer Mansarde (überdies besitzen wir seit dem Tod des unbekannten Großvaters keinen Regenschirm; er ist sicher bei Schönwetter gestorben). Aber ein Dichter hat in einer Mansarde zu hausen, vor allem vor dem ultimativen Durchbruch. In einer Mansarde vergehen einem zumindest die übrigen Themen. Ich bin isoliert. Die Mansarde ist schlecht isoliert. Einen schwülen Sommer lang in der Mansarde, und man schwitzt ganz unwillkürlich Mansardenprosa heraus.
    Einmal habe ich mir vorgenommen, mich in die Schopenhauer’sche Haut zu versetzen und über meine, das heißt: über seine Mutter zu schreiben. Warum hast du mich bloß gezeugt, Mutter, wo doch auf dieser Erde die Gleichung gilt: 1 Mensch = 1e Katastrophe. Nach der Katastrophe müsste – grammatikalisch gesehen – ein Fragezeichen kommen, aber das wollte ich – lebensweltlich gesehen – nicht. In ihrer verderblichen Gefallsucht und an einer besonders schweren Form von  Morbus Leibniz  leidend, hat meine Mutter Johanna das unfassbare Verbrechen, das sie durch mich an mir, Arthur Schopenhauer, begangen hat, nie acceptiert, geschweige denn transcendiert. Meine Mutter ist von Natur aus völlig übergeschnappt und mit metaphysischen Scheuklappen versehen. Nur durch vorsätzliche Ignoranz qualifiziert man sich für Idyllen: So ist es in beinahe allen meinen Kommentaren und Ergänzungen zu meinem Hauptwerk nachzulesen. Meine Mutter konnte es nicht lassen, auch noch über die abwegigsten Gräser, Blüten, Sträucher und Wiesen ihr degoutantes lyrisches Gefasel zu schütten. Dabei verbirgt jede Blumenwiese Tragödien sonder Zahl! Regenwürmer, die von Ameisen zu Tode gequält werden; Insekten, die einander Stück für Stück auseinanderreißen, surrende Monster mit Giftstacheln; vertrocknete Frösche, erfrorene, abgestürzte, zerschellte Vogelkadaver und Ähnliches mehr: So ist jeder Locus amoenus, unter dem Mikroskop besehen, ein bluttriefendes Schlachtfeld und ein Beleg für die grausame Brutalität der Schöpfung. Dass mich meine Mutter vor ihrem Tod dreimal ausdrücklich enterbt hat, ist völlig ohne Belang. Ich verdanke ohnehin alles meinem Vater, seelisch, geistig und ökonomisch und finanziell. Ich bin nicht abhängig von den Dienern des Augenblicks, ich bin nicht abhängig vom vorübereilenden Geschlecht, habe ich geschrieben, dann aber nicht mehr weitergeschrieben, weil es mir beim Durchlesen in einer plötzlichen Einsicht überflüssig vorgekommen ist, etwas zu erzählen, was Schopenhauer selbst hätte erzählen können, hätte er es erzählen wollen, und

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