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Absturz

Absturz

Titel: Absturz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gstaettner
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lasse ich lauter knallharte philosophische Raunzer aufmarschieren. In Wirklichkeit schlafe ich nach wie vor mit meinem Teddybären und bekomme bei Tierfilmen nasse Augen.  Der mit dem Wolf weint.  Aber welche Bedeutung hat die Wirklichkeit in zweihundert Jahren? Dieses Zitat stammt aus einem Rundfunkinterview, ist aber nicht gesendet worden. Das meiste, was man sagt, wird herausgeschnitten: So ist das Leben. Interviews, ganz gleich zu welchem Thema, würde ich prinzipiell gern nur in Triest an der Barcola geben, gebe sie aber immer in der Landesstudiokantine.
    Mit dem heutigen Wissensstand kann ich sagen: Mein Lebensziel ist fünfzig. Anders gesagt: Der große Sechsteiler um 20.15, fünfzig Jahre in neun Stunden, noch dazu meine dramatischen fünfzig Jahre in allgemeingültigen, dramatischen neun Stunden. Die schlichtesten Titel sind die eindrucksvollsten, gerade für so eindrucksvolle Unternehmungen. Wie wäre es einfach mit dem Namen?  Möller . So wie  Amadeus  oder  Gandhi  oder  Ben Hur . Dann könnte ich mich freilich nicht mehr so salopp auf den Icherzähler herausreden! Die Wahrheit ist: Ich bin ein Kunstwerk auf der Suche nach einem Künstler, kein Künstler auf der Suche nach einem Kunstwerk. Nie käme ich auf die Idee, Poetikvorlesungen an der Universität zu halten und mich über Fragen der Architektur eines Romans und der Erzähltechnik zu verbreiten. Nie würde ich öffentlich diskutieren, ob es aussichtsreicher ist, innovative Prosa erschöpft und schlaftrunken oder ausgeschlafen zu dichten, morgens oder abends, betrunken oder nüchtern, krank oder gesund, nackt, hockend, handschriftlich, mit Kriegsbemalung, bärtig, pfeiferauchend, im Hotelzimmer, im Café, im Schnee, unter Palmen, unter Drogen, zwischen Brüsten, auf Zehenspitzen, unter Wasser. Das geht niemanden etwas an, auch mich nicht. Aber ich erlebe mein Leben von Kindesbeinen an als Film samt Soundtrack und Vorspann. Wenn ich das Haus verlasse, sehe ich im Kopf die Schrift mit dem Untertitel der jeweiligen Folge.
    Meine Mansarde ist voller Kameras, und sie zeigen mich, wie ich etwa die Geschichte des mündigen Staatsbürgers in der Wahlzelle schreibe. Sorgsam suchen die Kameras meinen Schreibtisch auch nach medienwirksamen Fetischen ab, das, was zu gegebener Zeit im Privatmuseum landen wird, ein zwei Sätze aus dem Manuskript und dazu  Largo al factotum della città , dann mag die Totenglocke schallen. Ein noch ungelöstes Problem der Produktion ist, dass ich weder Ben Kingsley noch Tom Hulce ähnlich sehe. Ivanisevic könnte Ivanisevic spielen, Agassi Agassi, Camus Camus, Steinwachs Steinwachs, aber alle übrigen müssten adäquat besetzt werden. Innerhalb des großen Rahmens beim Dreißiger wimmelt es bereits von Berufsleben. Ich sage zu jedem, der zu jeder Gelegenheitsarbeit Ja sagt, Nein. Ich kann gleichzeitig Steinwachs lesen, Teller waschen und Ivanisevic schauen, aber ich kann nicht gleichzeitig die Vorsokratiker studieren und Akten bearbeiten, das geht nicht. Ich kann nicht gleichzeitig Schopenhauer lesen und System erhalten. Auf Berufsleben angewiesene Leben können nicht wählerisch sein. Ich bin wählerisch, und wo es keine richtige Wahlmöglichkeit gibt, da tritt der Nichtwähler auf den Plan.
    Ein anonymer Tiroler Hörer hat den Tiroler Landesstudio-Literaturchef und mich nach einer in Tirol gesendeten Funkerzählung wegen sittlicher Gefährdung der Hörer und Herabwürdigung religiöser Lehren nach § 188 des StGB angezeigt, weil ich das Bibelwort des Perlen-vor-die-Säue-Werfens paraphrasiert, die Plurale durch Singulare und die bestimmten durch unbestimmte Artikel ersetzt und die Handlung nach Österreich verlegt habe. Aber der Staatsanwalt des Landesgerichts Innsbruck hat zur Erleichterung des Tiroler Landesstudio-Literaturchefs und zu meiner Enttäuschung, ja zu meinem Entsetzen das Verfahren bereits nach den Vorerhebungen gleich wieder eingestellt, meine vom anonymen Tiroler Hörer völlig korrekt in ihrer ganzen Dramatik als Herabwürdigungen identifizierten Herabwürdigungen nicht gewürdigt und mich, ohne überhaupt mit mir Sachverständigem Rücksprache zu halten, zur Harmlosigkeit, zur Anonymität und zum Freispruch verurteilt, sodass ich, wie mir der Tiroler Landesstudio-Literaturchef geschrieben hat, beruhigt weiterhin Perlen vor Säue werfen kann. Weil der Tiroler Hörer anonym, sozusagen eine anonyme Sau (Zitat Jesus) ist, kann ich ihn nicht einmal zur Berufung und Wichtigkeitsbeschwerde

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