Absturz
entwickeln, innovative Strukturen entwickeln, flexibel sein, Autokrisenintervention. Ein arbeitsloser Akademiker macht jetzt zum Beispiel eine soziologische Studie zur psychosozialen Situation von Arbeitslosen und Langzeitarbeitslosen mit Breiteninterviews und Tiefeninterviews und Depressionscheck, und schon ist er aus der Arbeitslosenstatistik herausgefallen. Genial, was? Auf unsere Kosten, sagt Emmas Betreuerin triumphierend, auf unsere Kosten, sehen Sie! Außerdem möchte er die Studie später als Grundlage für die Dissertation nachnutzen. Das nur als Beispiel, sagt sie. Ansonsten Umschulung, aber wozu und zu was, das kann die Betreuerin auch nicht sagen. Die Computerkurse sind ausgebucht, und nach dem Computerkurs ist man samt seinen Computerkurskenntnissen gewöhnlich erst wieder arbeitslos. Die Betreuerin klopft in ihren AMS-PC und sagt, der Nationalzirkus sucht noch einen Stallburschen, das ließe sich durchaus metaphorisch verstehen, Kartenzwicker im Planetarium, Platzanweiser in der Sternenshow, per aspera ad astra, hähähä, aber sonst … warten Sie, die Erdbeerernte in Suonenjoki, Finnland: Erntearbeit auf Farmen (Akkordarbeit), zwei Mahlzeiten am Tag frei, sofort bewerben! … vor zehn Jahren war noch alles anders, oder vor zwanzig, aber jetzt … also dann, melden Sie sich nächste Woche wieder routinemäßig, Wiedersehen.
Dafür hab ich studieren müssen! Dafür habe ich zur Finanzierung meines Studiums unzählige Nachhilfestunden geben müssen, damit ich jetzt nach dem Studium erst wieder Nachhilfestunden geben kann und mich im Arbeitsamt fragen lassen muss, wozu ich denn studiert habe, und dann noch dazu so einen Unsinn wie Mathematik, stöhnt Emma. Ist das die bessere Existenz, für die ich mich jahrzehntelang geplagt habe während des Ganges durch alle Bildungsanstalten? Dass man sich so herunterputzen lassen muss als Akademikerin! Dank ist keine akademische Kategorie.
Akademikerin! Akademikerin! Wenn sich einmal Akademiker Akademiker zu nennen anfangen vor lauter Selbstmitleid und Würdesucht, wie soll das enden?, frage ich. Du bist doch selber einer!, sagt sie. Hast du aufgeben? Hast du dich aufgegeben? Oder wirst du gewöhnlich? Nein, aber das Studium soll ein Lebenswert an sich und sui generis sein, wie die Zugehörigkeit zur geistigen Elite ein Lebenswert an sich sein soll, und im akademischen Eid, den jeder junge Akademiker und jede junge Akademikerin – auch Emma – zu leisten hat, ist expressis verbis vom »schnöden Mammon« die Rede und von seiner Verachtungswürdigkeit. Eine Art vorauseilende Einkommensverzichtserklärung also. Nirgendwo ist im akademischen Eid vom Lebenserhaltungsblues die Rede. Das Studium dient zuallererst dem Verständnis, und der Akademiker ist zuallererst dazu da, zu verstehen. Wie eine Art negativer Politiker reagiert er auf alle Phänomene automatisch mit: Verständnis. Weltverständnis! Universelles Weltstrukturverständnis! Der Akademiker versteht die Zusammenhänge, sag ich, gleich welche, er versteht das, was zusammenhängt, gleich was, er versteht, dass die Zusammenhänge ihrerseits zusammenhängen in einem Zusammenhangnetz, und er versteht durch sein Verständnis der zusammenhängenden Zusammenhänge, dass die Zusammenhänge gleichsam notwendig dazu führen müssen, dass die Welt ist, wie sie ist: Und das heißt zuallererst, dass die Reichen reich und die Armen arm sind. Der Akademiker versteht die, die nicht verstehen, und der Akademiker versteht, dass die, die nicht verstehen, das, was sie nicht verstehen, nicht verstehen. Damit gibt sich der Akademiker zufrieden, wird dekadent, verfällt dem Alkohol und bringt sich um. Das versteht Emma offenbar nicht, oder sie will es nicht verstehen. Geistige Elite, sagt sie, dass ich nicht lache! Mafiöse Provinzintriganten! Skrupellos! In diesem Land gibt es nicht das geringste Wahrheitsstreben! In diesem Land gibt es nicht die geringste Wahrheitslust. In diesem Land gibt es nur parteipolitisch bedingte Reflexe. Nichts sonst. Nichts anderes. In diesem Land ist jeder zu jeder Unappetitlichkeit imstande, zu jeder Lüge, zur jeder Intrige, zu jedem Schwindel, zu jeder Gemeinheit, wenn es dem eigenen Vorteil nützt. Hier heißt die Wahrheit Vorteilnahme, schimpft Emma. Es ist zum Auswandern! Aber ich wandere nicht aus! Ich bin Mathematiklehrerin, sagt sie. Ich bin ausgebildet worden, junge Menschen zu unterrichten, und daher will ich junge Menschen unterrichten!
Emma ist deprimiert, ich bin phlegmatisch.
Weitere Kostenlose Bücher