Arkadien 02 - Arkadien brennt
Flucht
D raußen auf der Startbahn stieg eine Maschine in den Himmel, und die Welt um Rosa wurde still.
Nirgends eine Spur von Alessandro.
Während sie durch die Abflughalle hetzte, vorbei am Panoramafenster, blendete sie die Stimmen ihrer sechs Begleiter aus. Für einen endlosen Augenblick nahm sie nur den Flugzeugstart in Zeitlupe wahr, das Funkeln der Mittagssonne auf dem weißen Rumpf, dahinter die majestätischen Klippen der Bucht von Palermo.
Wo ist er?
Sie wusste, dass die sechs Männer sie nicht aus den Augen lassen würden. Dass sie ihr Ratschläge und Fragen und Belehrungen aufdrängen wollten. Aber Rosa lauschte nur ihrem eigenen Herzschlag, dem Blut in ihren Schläfen.
Mit wehendem Haar stürmte sie vorneweg, während ihre Berater ihr dicht auf den Fersen blieben, redend, gestikulierend, ein Chor aus Quälgeistern: Zecken in dem dicken Fell, das sie sich während der vergangenen Monate zugelegt hatte.
Ein halbes Dutzend Männer in feinen Anzügen, mit handgefertigten Schuhen und Seidenkrawatten, gut frisiert und manikürt – blitzsaubere Geschäftsleute für jeden, der sie sah, und in Wahrheit doch nur sechs von unzähligen Verbrechern, die das Vermögen des Alcantara-Clans verwalteten.
Rosas Vermögen.
Sie hätte sich dafür interessieren müssen. Stattdessen begegnete sie den Fragen und Forderungen ihrer Berater mit Gleichgültigkeit, als wäre es nicht ihr Geld, um das es ging. Die sechs sorgten sich ohnehin vor allem um ihre eigenen Beteiligungen. Aus Gründen, die ihnen gehörig gegen den Strich gingen, waren sie auf Gedeih und Verderb den Launen einer Achtzehnjährigen ausgeliefert.
Immerhin, das wusste Rosa zu schätzen. Nicht mit ihnen zu reden war ein bisschen, wie von ihnen zu stehlen. Damit kannte sie sich aus. Schwierig, lieb gewordene Angewohnheiten abzulegen. Schweigen gleich Stehlen gleich Adrenalin. Das war gerade so viel Mathematik, wie sie in einer übervollen Flughafenhalle ertragen konnte.
Ihr hellblondes Hexenhaar fiel wild und wirr über ihre schmalen Schultern, so resistent gegen Bürsten wie Rosas blasser Teint gegen Bräune. Die Schatten um ihre Augen ließen sich durch nichts vertreiben und waren im letzten Jahr noch dunkler geworden; einige hielten sie für Make-up, Kajalstift für den gemäßigten Gothic-Look, aber Rosa war damit geboren worden. Sie gehörten zu ihr wie so vieles, was sie nicht wieder loswurde. Ihre Schwächen: von Nägelkauen bis Neurosen. Und ihre Abstammung samt den gewöhnungsbedürftigen Eigenschaften, die damit einhergingen.
Wo, zum Teufel, steckte Alessandro? Er hätte hier sein müssen. »Zum Abschied bin ich bei dir«, hatte er gesagt.
Einer der Männer holte auf und versuchte, ihr den Weg zu verstellen. Ausblenden, taub sein. Seine Bemühungen, ihre Aufmerksamkeit zu erregen, wirkten wie absurde Pantomime. Sie trat an ihm vorbei und eilte weiter.
Alessandro, verdammt!
Vor vier Monaten, im Herbst, war sie auf der Flucht vor ihrer Vergangenheit nach Sizilien gekommen. Und nun, Mitte Februar, floh sie abermals, diesmal vor der Gegenwart, fort von dieser Insel.
Nach außen war sie die Erbin eines Firmenimperiums. Seit ihrem achtzehnten Geburtstag vor zwei Wochen hielt sie auch vor dem Gesetz den Kopf hin für das Treiben ihrer Geschäftsführer. Selbst ihr wurde schwindelig, wenn sie an die Folgendachte, die es haben mochte, einem Clan der Cosa Nostra vorzustehen.
Vor ihr tauchte die Sicherheitskontrolle auf. Kein Alessandro weit und breit. Mistkerl.
Sie beschleunigte ihre Schritte, ignorierte das Papier, das ihr einer der sechs im letzten Moment unter die Nase hielt, murmelte etwas von »In ein paar Tagen wieder da« und atmete erst wieder ein, als die Männer auf der anderen Seite der Sicherheitsschleuse zurückblieben.
Rosa schaute sich um. Die sechs traten fluchend den Rückzug an. Unter all den Menschen im Abflugbereich suchte sie den einen ganz bestimmten. Ein Gesicht, das ihr vertrauter geworden war als ihr eigenes.
War sie in ihrer Eile an ihm vorbeigehetzt? Wohl kaum. Hatte er sich ferngehalten, als er ihren Tross gesehen hatte? Schon eher. Ein Spross des Carnevare-Clans, der sich mit einer Alcantara abgab – viele Mitglieder der anderen Clans sahen darin noch immer eine Kriegserklärung. Rosa und Alessandro wussten beide, dass es genug Stimmen in ihren eigenen Familien gab, die hinter vorgehaltener Hand forderten, die Leichen der beiden im Meer zu versenken. Für Rosa hätte es ein gewagtes Spiel sein können, ihre
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