Absturz
Prozent aller Bundesbürger Blau, die Farbe des Himmels, lieben. Emma gehört zu diesen Bundesbürgern. Sie liebt die im Süden beliebten handbemalten Fliesen und die individuelle Keramik aus kleinen Manufakturen, aber unglücklich, und sie würde unser Bad wie ein andalusisches Bad mit spanischem Steingut, das in überlieferter Technik verfeinert wird, einrichten, wenn sie sich das leisten könnte. Oder sie würde einen azurblauen Fliesenboden legen lassen, der den Besucher wie über eine seichte Dünung gehen lässt. Tatsächlich geht der Besucher, wenn er bei uns aufs Klo geht, einfach aufs Klo. Oder, überlegt sie, doch eher den breiten Mosaikfries mit fliegenden Möwen und die weit in den Raum ragende, rundliche Eckbadewanne mit Schwallzulauf, alles eine Platzfrage. Ganz bestimmt würde sich Emma den Sessel Monterosso ins Wohnzimmer stellen, der mit Daunen gepolstert ist und einlädt, sich in seine ausgebreiteten Arme zu kuscheln und zwischen den schützend nach vorne gebogenen Ohren die Welt zu vergessen, wenn sie sich den Sessel Monterosso und wenn sie es sich leisten könnte, die Welt zu vergessen. So erholen wir uns in der öffentlichen Erholungsanlage, bis am späten Nachmittag die schöne Sonne hinter den schönen Bergen verschwindet.
Eddie, so nennen wir einen jungen Akademiker, der aus dem Sekretariat des Landesschulrats eben zu uns ins Chinesische Wirtshaus gekommen ist, einmal Fastenspeise der Buddhisten sowie zehn Bier bestellt hat und sich jetzt gerade an sein fünftes Bier macht. Wir kennen die traurige Lage, in die er wie mancher andere ohne sein Verschulden geraten ist. Wir fühlen lebhaft, wie schmerzlich es einem Mann von seinen Kenntnissen, seinen Talenten und Fertigkeiten sein muss, sich außer Tätigkeit zu sehen. Ja, da und dort sind ihm von verschiedenen Seiten Anerbietungen gemacht worden, aber die verursachen ihm bloß neue Qualen, neue Unruhe: denn keines von den Verhältnissen ist ihm gemäß. Er soll nicht wirken, er soll sich aufopfern, seine Zeit, seine Gesinnung, seine Art zu sein, und das ist ihm unmöglich.
Wie jedes Mal ist Eddie nur bis zur Frau Sekretärin vorgedrungen, weil der Landesschulratspräsident gerade seinen Wintertauchurlaub in den Haifischgewässern vor Venezuela verbringt und anschließend (dienstlich) in der Dominikanischen Republik weilt, um das dortige Schulsystem zu inspizieren, was aber an der Grundsituation nichts ändert, weil die Sekretärin auch längst Präsidentenmanieren angenommen hat und Eddie zunächst eine Stunde im Vorzimmer auf sich warten lässt, was aber nichts macht, weil Eddie schon sieben Jahre wartet, und da kommt es auf eine Stunde mehr nicht an. Die Frau Sekretärin sitzt auf einem Sessel Monterosso , hat ihre Beine auf der Tischplatte gelagert, obwohl es durchaus keine zum offensiven Herzeigen zwingenden Beine sind, schmatzt einen Apfel nach dem anderen, und auf Eddies Frage hin seufzt sie angewidert, legt den Apfel weg, sieht die Warteliste durch, bekommt schlagartig ein heiteres Gesicht und gratuliert Eddie, nach wie vor mit den Beinen auf der Tischplatte, denn er ist im abgelaufenen Schuljahr vom zweihundertvierundsiebzigsten Warteplatz auf den zweihundertneunundsechzigsten Warteplatz vorgerückt.
In einem Zeitungsinterview sagt der Landesschulratspräsident, er finde es nicht gut, wenn die arbeitslosen Akademiker zu Hause säßen und Däumchen drehten. Er sagt, sie sollen sich etwas einfallen lassen. Er hat sich auch etwas einfallen lassen, seinerzeit, als er jung war. Es ist nicht seine Aufgabe, sagt der Landesschulratspräsident, sich in die Bedürftigen hineinzufühlen. Eddie, der vor sieben Jahren noch auf dem nahezu aussichtslosen Warteplatz zweihundertachtundachtzig gelegen ist, denkt während der Unterredung mit der Sekretärin, dass das Hochlagern der Beine gesund, das Dauerapfelessen wegen der Methanolwirkung im Rachen dagegen sehr ungesund ist, in seiner Langzeitwirkung mit wenn auch maßvollem Dauerschnapstrinken verglichen werden muss und zu Schwämmen an den Leberlappen, wenn nicht gar zu gelben Augäpfeln oder noch ärgeren Lebererkrankungen führen kann, aber Eddie denkt gar nicht daran, die Sekretärin zu warnen. Eddie sieht sich als Repräsentant der Generation gesellschaftlicher Entsolidarisierung, und er hat mit der Sekretärin überhaupt kein Mitleid.
Es ist schlimm genug, sagt Eddie beim sechsten Bier, dass man jetzt nichts mehr für sein ganzes Leben lernen kann. Unsere Vorfahren hielten sich an den
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