Absturz
Drei Viertel aller Lehrer gehen früher oder später in die Nervenheilanstalt, sag ich, ins Zentrum für seelische Gesundheit , und die meisten würden schon Jahre und Jahrzehnte, bevor sie in die Nervenheilanstalt gehen, in die Nervenheilanstalt gehen, würden sie sich als geistige Elite nicht genieren und müssten sie durch einen solchen Gang in die Nervenheilanstalt nicht um ihren guten Ruf bangen. Die Zunahme Vaterunser betender Mittelschulprofessoren ist dramatisch. Das Viertel aller Lehrer, die nicht in die Nervenheilanstalt gehen, geht in die Politik. Sich abplagen mit Pubertierenden, die gar keine Lust haben, sich an das abendländische Wertesystem anzupassen!, sag ich, das ist auch nicht lustig.
Ja, aber man kann seinen Lebensunterhalt bestreiten!
Einmal abgesehen davon, dass das Ausbilden junger Menschen wahnsinnig macht, ist die Frage, ob es ethisch und moralisch überhaupt vertretbar ist, junge inhaftierte Menschen zu disziplinieren, zu domestizieren und gefügig zu machen. Erziehen heißt enttäuschen. Erziehen heißt erpressen. Erziehen heißt, in eine Zukunft hinein erziehen, die man selber nicht kennt und von der man keine Ahnung hat. Meine eigene Gymnasialzeit war eine umfassende Themenverfehlung seitens des Lehrkörpers und der Schulbehörde. Ich bin ein Jahrzehnt meines Lebens lang nicht auf das Heute vorbereitet worden, sondern auf das Vorgestern! Dank ist keine pädagogische Kategorie. Viele Lehrer werden früher oder später aus nackter Verzweiflung Hobbyverzweiflungslyriker, und manche von ihnen dürfen ihre Verzweiflungslyrik an einem Spätherbstabend im Gemeinschaftsraum des Zentrums für seelische Gesundheit vorlesen als special guest von der Front. Hören wir zu lamentieren auf, Emma, machen wir eine Flasche Bardolino auf!
Ja, Sie haben recht! Natürlich wieder ein Romanversuch, Frau Großholtz! Nein, natürlich unveröffentlicht. Ein Fragment. Jungfräulich und unerforscht.
Positives Denken ist vergriffen, sagt Emma und legt den Schlafzimmerteppich in die Garderobe, den Garderobenteppich ins Wohnzimmer, den Wohnzimmerteppich ins Schlafzimmer. Sie stellt den Küchenkaktus ins Bad, den Badezimmerkaktus ins Wohnzimmer, den Wohnzimmerkaktus in die Küche. Viel besser so, sagt sie. Urin ist ebenfalls vergriffen. Es ist so ein schöner Tag, sag ich. Wer weiß, wie viele solcher schöner Tage wir noch haben werden. Nehmen wir doch die Räder und fahren wir in die öffentliche Erholungsanlage.
Die öffentliche Erholungsanlage ist zehn Meter lang, zehn Meter breit, von Gestrüpp gesäumt, ans Schilfgürtelufer mit wenig Sicht auf den See gelegt und besteht im Wesentlichen aus Gras mit Brennnesselvorkommen, aus einer öffentlichen Parkbank, einem öffentlichen Abfalleimer und einem öffentlichen Schild mit der Aufschrift Öffentliche Erholungsanlage . Noch nie haben wir irgendjemanden diese öffentliche Erholungsanlage benützen sehen, und wer sich wie wir in der öffentlichen Erholungsanlage erholt, erholt sich unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Wir stellen die Räder ab, ich setze mich in die Sonne und lese in den Wahlverwandtschaften . Emma setzt sich in den Schatten, immer sorgt sie sich um ihren Kreislauf. Sie hat beim Altpapiercontainer zwei gebrauchte, aber gut erhaltene und geradezu neuwertige Ausgaben von Schöner Wohnen und Buntes Gartenjournal gefunden. Jetzt blättert sie das bunte Gartenjournal durch und überlegt, wie sie als Hobbylandschaftsplanerin unseren Garten anlegen würde, wenn wir einen Garten hätten: wo die Terrasse, wo welche Wege. Wo welche Hecke, welche Sträucher, welches Gebüsch. Buchsbaum, Judasbaum oder Zierquitte, immergrüne Berberitzen, Mandelbaum oder Binsenginster, Mehlbeerenstrauch, Gamander oder Heiligenkraut? Goldregen, Pfingstrosen, Flieder? Die pyramidenförmigen Goldthujen oder doch die Smaragdthujen? Eine Laube? Wo welche Bäume, Blumenbeete, Gemüsebeete? Quadratisch, kreisrund oder ellipsenförmig? Wie man eine Ellipse mit zwei Stäben und einer Schnur nach der Gärtnermethode konstruiert, weiß Emma natürlich. Obst? Schnittlauch, Petersilie, Tomaten auf alle Fälle. Eventuell frisch erhaltene Pfropfreiser auf junge Stämme bringen, eventuell Gewächshäuser, Treibebeete, eventuell ganz hinten eine kleine Mooshütte. Meinetwegen, sag ich und lese weiter.
Nach dem Bunten Gartenjournal nimmt sich Emma Schöner Wohnen vor, das diesmal zur Gänze dem Sonderthema Wohnideen in Blau & Weiß gewidmet ist, weil vierzig
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