Absturz
Freund gesagt, sagt Eddie. Einmal die Fingernägel nicht geputzt, und schon steht man unter Ergotherapieverdacht; einmal fahrlässig eine Melodie vor sich her gepfiffen, schon ist man Drummer in der Dementencombo. Monate später, sagt er, wird man ganz woanders von irgendwelchen Leuten in irgendwelchen Situationen diskret gefragt, wie es einem denn mittlerweile mit seinen Problemen geht und ob man seelisch über den Berg ist. Nicht nur für einen Außenstehenden, auch für einen Patienten, also sozusagen für einen Insider, lässt sich nur schwer sagen, wer ein Besucher und wer ein Patient ist. Gerade die Patienten halten Patienten gerne für Besucher und Besucher gerne für Patienten, und plötzlich kommen alle auf einmal auf einen zu und behandeln einen als einen der ihren, sagt er, es ist unerträglich. Einmal drinnen, lassen sich Besucher, Insassen und Doktoren überhaupt nur schwer auseinanderhalten; manche dürfen stundenweise zur Resozialisierung und Reemotionalisierung hinaus, das steigert die Verwirrung und Unübersichtlichkeit. Manche der stundenweise Freigelassenen nehmen ihre stundenweise Freilassung ganz automatisch als eine Art Promotion. Den tatsächlichen Doktor identifiziert man in letzter Konsequenz erst, wenn man ihm sagt, dass man dringend einmal muss, und er keine Einwände gegen das Wort müssen hat.
Manisch depressiv, sagt der Doktor, unheilbar. Man weiß nicht so genau, woher das kommt und wohin das geht, sagt Eddies Freund. Gesprächstherapie ist so eine Sache. Wahnsinnig kompliziert. Manische Menschen schauspielern ja immer: Wenn ein Maniker einen manischen Schub hat und beim Therapeuten sitzt, kann es sein, dass der Maniker dem Therapeuten vorspielt, dass er weder manisch noch depressiv ist und schon gar keinen Schub hat, sodass der Therapeut – wüsste er es nicht besser – annehmen müsste, dass der Maniker plötzlich wie durch ein Wunder vollkommen geheilt ist. Hochintelligent natürlich, hat Eddies Freund Eddie gesagt, erzählt er. Kein Manisch-Depressiver, der nicht nebenbei hochintelligent wäre, nur dass sich eben die Hochintelligenz gegen den Hochintelligenten wendet, das ist das Problem. Wiedereingliederung und Vergesellschaftung sind stets nur ein Provisorium auf einer niedrigen Stufe. Lange Phasen der Verhaltensunauffälligkeit sind letztlich nur eine Verschleierungstaktik der Krankheit. Man weiß auch nach Jahren nicht, wann wieder ein Schub kommt, aber einmal kommt er, und wenn er kommt, kommt er mit ganzer Wucht. Hinzu kommt die obligate sexuelle Zügellosigkeit während solcher Schübe, die Hypernymphomanie, der Furor uterinus, hat der Freund gesagt, dann muss es sein, ohne Wenn und Aber und wo immer man auch gerade ist, im Wirtshaus, im Bad, am Friedhof, nur darf man auch im Stadium alleräußerster Erregtheit weder wahnsinnig gut noch irrsinnig fein sagen. Man muss sich immer unter Kontrolle haben, wenn man mit einem zusammen ist, der sich nicht unter Kontrolle hat. Wenn einer einmal ein Fall gewesen ist, kann er jederzeit wieder ein Fall werden, sagt der Freund, und es ist eine enorme Belastung, in einer zwischenmenschlichen Beziehung mit einem Fall zu sein. Auf Dauer macht man sich kaputt, sagt der Freund, erzählt Eddie, und er, der Freund, hat jetzt aus Rücksicht auf sich selbst einvernehmlich Schluss mit ihr gemacht, was eine Erleichterung ist, aber das Problem birgt, dass Einvernehmlichkeit mit einer Manisch-Depressiven so eine Sache ist. Wer garantiert ihm, dass sie nicht morgen aufs Äußerste erregt vor seiner Tür steht, vom Schluss überhaupt nichts weiß und alles von vorn beginnt?
Eddie sagt, dass der Freund von der Freundin schweren Herzens auch innerlich wegkommen will, und um innerhalb der Innerlichkeit auf andere Gedanken zu kommen, hat er jetzt, obwohl er bereits Medienkommunikationsmagister, als solcher aber arbeitslos ist, auch noch Germanistik zu studieren begonnen und jetzt eine Seminararbeit über die Wahlverwandtschaften aufgetragen bekommen, was bedeutet, dass Eddie ihm die Seminararbeit über die Wahlverwandtschaften schreiben wird zu einem Freundschaftspreis. Natürlich wird sich dadurch sein eigenes Theologiezusatzstudium ein wenig verzögern, aber Gott läuft ja nicht davon. Du hast doch während deines Studiums selbst einmal eine Arbeit über die Wahlverwandtschaften geschrieben, sagt Eddie, über die psychoanalytischen Konstruktionstheorien bezüglich der Buchstaben O und T in den Namen Otto, Ottilie und
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