Absturz
erzählt Eddie beim neunten Bier, studiert Philosophie, weil er glaubt, dass ihm der akademische Grad geschäftlich nützt. Jetzt soll er eine Seminararbeit zum Thema Die Geschichte des Elends – Das Elend der Geschichte schreiben. Damit kann er natürlich nichts anfangen und dazu fällt ihm nichts ein, sagt der Geschäftsmann, da muss er passen. Außer korrekt zitieren kann er eigentlich nichts, und er weiß nicht, wen oder was er zitieren könnte, sollte oder müsste. Besonders formulierungsübersprudelnd ist er auch nicht, aber er kann zahlen. Ich habe den Auftrag und den Scheck sofort angenommen, sagt Eddie, und dem Kaufmann in knapp zwei Tagen aus Hesiod und Hegesias, Sophokles, Bias, Heraklit, Pascal, Voltaire, Schopenhauer, Nietzsche, Feuerbach, Hartmann, d’Holbach, Horstmann und Cioran einen Portable-Defätismus zusammengeschnürt, der sich gewaschen hat. Dann stellt sich Eddie das zehnte Bier zurecht und besucht das Kompetenzzentrum für systemische Darmwellness.
Was tut er?, fragt Emma.
Er geht aufs Klo.
Dein Freund ist total verrückt, sagt Emma. Exaltiert irgendwie. Sogar brutal irgendwie. Nicht körperlich. Geistig. Seelisch. Und total besoffen. Aber interessant irgendwie. Und irgendwie süß. Am Heimweg kommt Eddie nicht umhin, sein elftes Zusatzbier wieder zu veräußern, und er bestimmt dazu die Einfahrt eines nächtlichen Hinterhofs. Hausbesorgerinnen schlafen nie. Diese ist in der Dunkelheit nicht zu sehen, aber zu hören. Plötzlich brüllt sie in die Finsternis und ins Geplätscher: Gesindel, verschwindet! Eddie antwortet lallend, aber doch unüberhörbar betroffen in die Dunkelheit hinein: Ich bin kein Gesindel, ich bin Magister , worauf die Concierge kurz stockt und dann nochmals rückfragt: Was seid’s es? Ein Gesindel seid’s es! Ich hol die Polizei! Da gehen rundum in den Häuserblöcken die Lichter an. Ob die Polizei tatsächlich jemals am Tatort eingetroffen ist und in welcher Form sie dort amtsgehandelt hat, kann ich nicht sagen, weil wir den Tatort unmittelbar nach Verrichtung von Eddies Notdurft verlassen haben.
Eddie hat einen Freund, der hat eine Freundin, die hat, sagt Eddie, psychische Probleme. Die Freundin der Freundin hat eine Freundin, die hat auch psychische Probleme, die wieder hat eine Freundin, die ebenfalls psychische Probleme hat. Es ist eigenartig, hat der Freund gesagt, erzählt Eddie beim fünften Bier, warum sich ausgerechnet immer solche Leute zusammenrotten, und warum sich immer die gleichen Leute finden, obwohl sie einander eigentlich nicht leiden und nicht ausstehen können, und über alles mögliche, nur nicht über ihre psychischen Probleme miteinander reden. Erst nach und nach ist er, der Freund, darauf gekommen, dass auch seine eigene Freundin psychische Probleme hat. Wenn ein Mensch psychische Probleme hat, muss man immer auf der Hut sein, sagt Eddie beim sechsten Bier, denn er tarnt seine Probleme, und viele Menschen, die psychische Probleme haben, schauen gar nicht so aus, als hätten sie psychische Probleme. Er, der Freund, hat während des Beischlafs mit seiner Freundin in höchster Ekstase einmal instinktiv wahnsinnig gut und irrsinnig fein gesagt; sie hat plötzlich gesagt, er soll nicht wahnsinnig und irrsinnig sagen, er soll in ihrer Gegenwart um Himmels willen unter gar keinen Umständen die Worte wahnsinnig oder irrsinnig verwenden. Der Freund hat gesagt, alle sagen in solchen Situationen wahnsinnig gut oder irrsinnig fein , da muss doch auch er zwischendurch … er darf nicht müssen sagen, hat sie gesagt, geschrien hat sie das, sagt er, er darf in ihrer Gegenwart unter gar keinen Umständen das Wort müssen oder eine konjugierte Form des Wortes müssen verwenden. Aber irgendetwas muss ich ja wohl …, hat er gesagt; jetzt hast du schon wieder muss gesagt, hat sie gesagt, das tust du mir zu Fleiß, hat sie gesagt und ist ins Zentrum für seelische Gesundheit gegangen, hat der Freund gesagt, erzählt Eddie beim siebenten Bier.
Nein, nein, es ist ein anderes siebentes Bier, liebe Frau Großholtz. Es gibt ja viele siebente Biere, wenn das Leben kurz und der Tag lang ist …
Es ist unangenehm, ins Zentrum für seelische Gesundheit zu gehen, sagt der Freund. Für einen Außenstehenden lässt es sich auf den ersten Blick kaum unterscheiden, wer als Patient und wer als Besucher kommt, und im normalen Zweifelsfall hält der Außenstehende einen Ankömmling prinzipiell für einen Patienten, hat der
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