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Absturz

Absturz

Titel: Absturz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gstaettner
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Charlotte, wenn ich mich nicht täusche. Du könntest mir ein paar Anregungen geben.
    Ich steige vorne ins Taxi ein, Emma und Eddie hinten.  Wir sind so nah am Feuer. So nah am Tabu. Wir küssen die Nacht.  Der Taxifahrer hat Philosophie studiert, rangiert momentan auf Platz hundertzweiundneunzig der Warteliste für arbeitslose Lehrer, erzählt er, und wir unterhalten uns über Spinoza. Im Rückspiegel sehe ich, wie Eddie im Dunkeln seinen Arm um Emmas Schulter legt, und ich bekomme eisige Fingerspitzen. Was tun die da? Was ihn an Spinoza ein wenig stört, sagt der Taxifahrer, ist, dass Spinoza aus der Erfahrung des Leidens an der Vergänglichkeit sich liebend nach dem Ewigen auszustrecken und in dieser Liebe zu ruhen versucht, sodass Novalis Spinoza einen gotttrunkenen Menschen und den Spinozismus eine Übersättigung mit Gottheit nennen und noch Schleiermacher Spinoza diagnostizieren kann, dass ihn der hohe Weltgeist durchdrang, das Unendliche sein Anfang und sein Ende war, das Universum seine einzige und ewige Liebe; dass er sich in heiliger Unschuld und tiefer Demut in der ewigen Welt spiegelte und zusah, wie auch er ihr liebenswürdigster Spiegel war.
    Im Rückspiegel küssen sich Eddie und Emma. Emma ist mir eine. Sphinx. Eddie fährt Emma im Dunkeln mit dem um sie gelegten Arm in die Bluse hinein, und Emma hat im Dunkeln ihre zierliche kleine Hand hoch oben auf seiner Hose liegen. Oh, wie sie ihre Befugnisse überschreiten! Ein wahnsinniges Bild. Irrsinnig. In der Wochenendbeilage der Zeitung war immerhin gestanden, dass wir Zungenküsse zu schätzen wissen sollen als erotische Delikatesse, und dass der Moment des Eindringens der Zunge in eine gegenüberliegende Mundhöhle ein kleiner Höhepunkt sein sollte. In der Zeitung steht auch, dass der rote Muskel mit den Geschmackswärzchen nicht besonders schön aussieht. Aber schon im Jakobusbrief steht, dass die Zunge ein kleines Glied ist und sich doch großer Dinge rühmen kann. In der Wochenendbeilage steht, dass von all unseren sinnlichen Organen die Zunge eines der sinnlichsten ist. Da sie sich unserem Blick entzieht, empfinden wir es als erregende Intimität, wenn Zunge und Zunge einander berühren. In der Zeitung steht, dass wir mit der Zunge sanft die Mundwinkel des Partners erkunden und darauf achten sollen, dass unsere Lippen keine Luftlöcher lassen. Eine kurze Zunge, steht in der Zeitung, ist kein Malheur. Wir sollen in dem Fall ganz einfach nur die Zungenspitze agieren lassen und damit die andere Zungenspitze liebkosen. Wenn wir eine extrem lange Zunge haben, sollten wir erst gar nicht darauf aus sein, das ganze Stück unterzubringen, steht in der Zeitung. Bei der Kreuzung leuchtet die Ampel rot, und sofort lassen Eddie und Emma voneinander ab. Spinoza hat aber auch seine guten Seiten, sagt Eddie.
    Auf der Wohnzimmercouch bestätigt mir Eddie, dass ich total betrunken bin. Ich bestätige Emma, dass sie total betrunken ist. Emma bestätigt Eddie, dass er total betrunken ist. Emma muss aufs Klo, und Eddie sagt, er ist mit Feuerbach eigentlich recht einverstanden, wenn er sagt, dass der Mensch das, was er nicht wirklich ist, aber zu sein wünscht, zu seinem Gott macht oder dass das sein Gott ist; dass also der Mensch, der seine Glückseligkeit nie vollkommen erreichen kann, sich in der Einbildungskraft Götter erschafft, die vollkommen glückselig sind; dass schließlich summa summarum Gott der in der Fantasie befriedigte Glückseligkeitstrieb des Menschen ist. Emma kommt. Eddie muss aufs Klo, und Emma sagt, was soll ich sagen. Es ist dir ja nicht entgangen. Ich war wahnsinnig …; du bist mir aber nicht böse deswegen? Eddie kommt. Ich muss aufs Klo, und ich kann nicht sagen, was Eddie Emma und was Emma Eddie sagt.
    Seid strebsam bei Tage und säuisch bei Nacht, sagt der liebe Goethe, so habt ihr es im Leben am weitesten gebracht. Sagt Eddie.
    Halt! Stop! Sofort aufhören! Nicht weitererzählen! Was faselst du denn da zusammen, alter Mann! Das stimmt doch alles nicht! Das ist doch alles nicht wahr! Das glaube ich nicht! Kein Wort! Rufschädigung! Das sind doch alles Erfindungen, literarische Vexierspiele, Fiktionen, Mystifikationen!
    Du musst es ja wissen.
    Und selbst wenn es stimmte: Hast du unser Gelöbnis vergessen, nichts über sie zu sagen?
    Unser Gelöbnis? Davon weiß ich nichts.  Dein  Gelöbnis vielleicht. Nicht meines.
    Ja bin ich denn jetzt nicht du?
    Nein, jetzt noch nicht. Du wirst erst ich werden. Du wirst zuerst noch ein anderer werden

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