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Absturz

Absturz

Titel: Absturz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gstaettner
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müssen, um ich zu werden.
    Wenn das so ist, will ich gar nicht du werden!
    Ich weiß. Aber es bleibt dir nichts anderes übrig. Was zu schreiben ist, das schreibe ich. Möchtest du denn gar nicht wissen, wie die irre Episode mit Eddie weitergeht?
    Du meinst  Die Wahlverwandtschaften ? Ich kenne das Ende der  Wahlverwandtschaften . Ich weiß, was aus Charlotte und Ottilie wird, was aus dem Hauptmann. Ich weiß, was sie in der Naherholungsanlage aufführen, in Gewächshäusern, Treibebeeten und Mooshütten. Aber es geht mich nichts an.
    Letztlich Chemie eben, alter Herr, chemische Reaktionen. Was soll’s. Alles Leben ist Chemie.
    Man lebt nur einmal.
    Einmal ist keinmal.
    Erst kommt die Chemie, dann die Moral.
    Das Fressen.
    Was fressen?
    Erst kommt das Fressen, dann die Moral.
    Und das Trinken natürlich. Erst kommt das Fressen und das Trinken, dann die Moral.
    Und der Urlaub. Und das Geschäft.
    Erst kommt das Fressen und Trinken, der Urlaub und das Geschäft, die Kapitalanlage und die Karriere, dann die Moral.
    Und der Sex. Schau nicht so, alter Herr! Sex ist wichtig. Lieber Sex als Neurosen.
    Also, erst kommt das Fressen, das Trinken, der Urlaub, das Geschäft, die Kapitalanlage, die Karriere, die Zusatzpension, der Sex, die Geliebte, der Hausfreund, die Neurosen, die Psychosen, die Analyse, die Therapiestunden und die Chemie – und dann die Moral.
    Erst das Fressen, dann die Amoral.
    Das große Fressen und die große Amoral.
    Man lebt nur einmal.
    Die Chemie muss passen.
    Genug gealbert. Faktum ist und bleibt: Über der Freiheit der Kunst steht der Personenschutz. Ich möchte, dass du mich in Ruhe lässt. Ich möchte, dass du mein Leben nicht kaputt machst, Schriftsteller!
    Der Mensch macht sein Leben ganz von allein kaputt: Dazu braucht es gar keinen Schriftsteller, und er muss auch keiner sein. Aber ich verstehe dich. Also, ich schlage vor, ich schreibe den Roman über Eddie und Emma, das heißt: Du schreibst ihn, denn du bist näher an der Geschichte, und das Gesetz des Schaffens muss erfüllt werden. Unbedingt. Aber wir veröffentlichen den Roman nicht. Wir sperren den Roman bis zu dem Tag, an dem alle lebenden Personen tot sind, du eingeschlossen, ich eingeschlossen. Wir wollen schließlich Leser, keine Schaulustigen. Da Schriftsteller nicht nur Seismografen gesellschaftlicher Entwicklungen sind, sondern auch wirklich in die Zukunft sehen können, als letzten Satz deines Romans den Hinweis, dass sich Eddie ein Vierteljahrhundert später bereits auf Platz zweihundertsiebzehn der Warteliste vorgearbeitet hat, aber nicht mehr wartet. Er wird, so viel ist sicher, nicht an die Reihe kommen. Wie Saulus zu Paulus wird Emma zu Hemma werden, zur Landesheiligen. Und du … aber das wird mehr als nur ein eigenes Kapitel. Das wird ein eigenes Buch. Wenn sich dann, wenn wir gestorben sind, niemand mehr für diese kleine Abschweifung im großen Irrgarten des Seins interessiert und Frau Großholtz die einzige Leserin bleiben sollte, kann es uns recht sein. Wir lassen hier eine Stelle frei und bezeichnen sie mit
    (…)
    (…)
    (…)
    damit spätere Herausgeber wissen, wo sie das einfügen sollen, was sie auf unserem Dachboden in Kisten, Schachteln, Schubladen, Leitz-Ordnern finden werden, wenn unser Haus abgerissen wird.

5
    M ein lieber junger Mann! Was man am Dachboden zwischen deinen alten Manuskripten, Versuchen und Fehlversuchen sonst noch so alles findet: zum Beispiel den Untersuchungsbefund der Stellungskommission – da warst du gerade achtzehn Jahre alt – mit dem Endergebnis: Tauglich. Eine gefährliche Drohung!
    Beginnend mit dem ersten Einberufungsbefehl hast du alle Befehle und Bescheide des Militärkommandos und später die des Innenministeriums über einen Zeitraum von eineinhalb Jahrzehnten feinsäuberlich in einem Karton gesammelt und aufbewahrt. Deinen Anteil an der Korrespondenz mit der Republik habe ich nicht gefunden. Aber es lässt sich darauf rückschließen, und deine Geschichte entwickelt sich ganz prächtig, auch wenn von dir nur in der dritten Person die Rede ist. Zunächst also ein jahrelanges Hin und Her von Inskriptionsbestätigungen und Aufschubbescheiden, bis du Magister bist, Doktor gar und sich die Republik, das Vaterland, die Heimat oder wie sich das Gespenst auch immer kennzeichnen mag, nicht länger an der Nase herumführen lässt und ein  nochmaliger Aufschub aufgrund des vorliegenden Sachverhalts nicht mehr in Erwägung gezogen werden kann . Frau und Kind, schiefes Nasenseptum,

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