Absturz
so wie es sein soll, und wenn sie einmal auf Besuch kamen, mussten sie vor der Tür die Schuhe abputzen! Wie war das herrlich! Und wenn sie wieder einmal unfehlbar waren, war das nur noch ihre eigene Privatangelegenheit. Ein halbes Jahrzehnt lang hast du den immer ein wenig kranken Vater nicht husten hören und nichts von seinen geschäftlichen Problemen mitbekommen, von Geldnot und Gicht, Schlaflosigkeit und Lebensabend. Du hast vorbeigeschaut, dich nach dem werten Befinden erkundigt, mit Papa eine Zigarette geraucht und bist wieder gegangen. Das war gut so. Das war richtig. Das war echt. Das war befreiend. Jetzt Abschied vom Abschied von den Eltern nehmen? Diesen großen Abschied jetzt rückgängig zu machen hieße unweigerlich, sich all das wieder aufzuhalsen, was du abgeworfen hast, und es hieße, aus praktischen Gründen heimzukommen, um so nebenbei, dann aber immer hauptsächlicher, den Vater beim Sterben zu begleiten.
So viele Filme, in denen die Hauptfigur – beschäftigt, bewusstlos und getrieben, ein Koloss mitten im Leben – plötzlich einen Anruf bekommt: Dein Vater ist gestorben! Beileid. Danke. Aber gar keine Bilder, Glückwunsch. Bloß ein paar Worte, eine Nachricht. Es dauert, bis die Nachricht sickert: Jetzt heißt es schnell einen Flug buchen, damit du rechtzeitig zur Beerdigung in der Heimatstadt bist. Die liebe kleine Heimatstadt mit den niedrigen Häusern und den langsamen Menschen und dem guten Essen und dem vielen Herbstlaub auf der Straße! Nimmt der Held ein Hotelzimmer oder schläft er die eine Nacht im alten Elternhaus bei der hinterbliebenen Mutter? Du meine Güte, alles wie früher, gar nichts verändert, als wäre die Zeit einfach stehen geblieben. Das Elternhaus hat sogar noch seinen Elternhausgeruch. Aber so oder so – am Morgen muss er früh aus den Federn und schnell zum Flughafen, die erste Maschine zurück nehmen, eine Konferenz, eine Sitzung, ein Milliardengeschäft, was auch immer. Während des Fluges schaut der Held versonnen auf das weiße Wolkenmeer hinaus, nippt am grässlichen Filterkaffee im Plastikbecher und wundert sich, wo bloß die Trauer bleibt. Alles scheint ihm mit selbstverständlicher Gleichgültigkeit abzulaufen, als sei er unterwegs zu einem Termin beim Steuerberater. Er ist ein Panzer geworden! Man kann nicht sagen, dass er sich als Panzer besonders wohl fühlt. Aber es geht ihm als Panzer auch nicht schlecht.
Solltest du einen Brief an den Vater schreiben, den er ja doch nicht verstehen wird? Solltest du einen Brief an die Mutter schreiben, junger Mann, den sie nicht verstehen will und nicht verstehen wird? Einen Brief an deine Frau? Führe mich nicht in Versuchung, sondern erlöse mich. Und du selbst, junger Mann? Schau dich an: Du bist ja kein kleines Gerippe! Komm jetzt endlich aus der Wahlzelle!
Plötzlich stürzt die Mutter aus dem Haus. Blankes Entsetzen steht in ihrem Gesicht, die Unterlippe zittert und sie wimmert: »Es ist etwas mit Papa, Philipp! Komm schnell, um Himmels willen, Papa hat etwas!« Zum ersten Mal in seinem Leben erlebt er die Mutter ganz ohne Vorwarnung plötzlich hilflos, und er merkt, dass sie instinktiv hofft, er sei nicht hilflos, sondern wüsste weiter, er sei jetzt erwachsen genug, um Rat zu wissen, eine trügerische, eine fatale Hoffnung. Ausgerechnet jetzt. Als ob du es gewusst hättest. Aber du hast es ja immer schon gewusst. Du stürzt zum Vater und siehst, wie Papa mit verdrehten ebenso wie verwunderten Augen am Boden auf dem Rücken liegt. Er röchelt und schnaubt und atmet schwer. Noch läuft der Fernseher, und Journalisten befragen einen Politiker zur Lage der Nation und zur Zukunft des Landes: Budgetsanierung, Steuerreform, Pensionsreform, Bildungsreform, Einwanderungsdebatte. Halb ist der Vater bei sich, halb nicht. Niemals hast du ein Gesicht gesehen, das so gelbgrau gewesen wäre, so fahl, so zusammengefallen. »Einen Arzt! Schnell, einen Arzt!«, rufst du und richtest den kraftlosen Oberkörper des Vaters auf, stützt ihn und hältst ihn an den Schultern fest. Erbrochenes rinnt Papa aus dem Mund. Er lässt es geschehen wie ein Kind. Und der Sohn sagt dem Vater: »Es ist gut, wenn du erbrechen kannst, dann geht es schnell wieder besser.« Alles auswendig gelernte Sätze: Das weißt du, noch während du sie sprichst. Aber nicht der Vater bricht, es bricht aus dem Vater, und er kümmert sich gar nicht darum, als ginge ihn das alles nichts mehr an. Es gibt keine Verständigungsmöglichkeit, aber kraftlos schüttelt
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