Absturz
von der Bühne tragen kann, kann man auch einen wirklich verletzten Schauspieler nach der Vorstellung von der Bühne nach oben in den roten Salon tragen, damit er im roten Salon seinen Preis entgegennehmen kann.
»Fernsehen«, wiederholt Settembrini nachdenklich, »fernsehen und Fernsehen machen sind natürlich zweierlei. Fernsehen! Eine Serie! Keine Dauerrolle, aber eine große! Es ist unvorstellbar, wie schnell sich Gesichter verbrauchen! Autoren verbrauchen sich nicht. Regisseure verbrauchen sich nicht. Dramaturgen verbrauchen sich nicht. Nur Schauspieler verbrauchen sich unablässig. Umgekehrt muss man erst einmal so weit kommen, dass man sich verbraucht. In dieser Stadt hält man ja die Schauspieler für die Schöpfer eines Stückes, nicht die Autoren. Autoren und Bühnenarbeiter stehen auf einer Stufe«, sagt Settembrini und Josef weiß nicht, was er dazu sagen soll, ist aber ohnehin darauf konzentriert, den bei jeder Bewegung vor Schmerzen aufstöhnenden Settembrini gemeinsam mit Max, der die Bahre herbeigeschafft hat, vorsichtig aus dem Stuhl zu heben und auf die Bahre zu legen.
»Ein großer Text hat auch einen hohen Eintrittspreis, dessen muss man sich bewusst sein, habe ich der Johanna gesagt, die die Adele Schopenhauer spielen sollte«, erzählt Settembrini jetzt schon auf der Bahre liegend von Josef zu Max und von Max wieder zu Josef schauend. »Da hat sie sofort zu weinen begonnen. Quälgeist hat sie mich genannt, Josef! Quälgeist: logisches Wort. Pleonasmus. Johanna wird ganz von allein gruppendynamisch. Quälgeist! Quälgeist! Quälgeist! Was denn sonst, bitte? Man kann keinen Brand legen, wenn alles durchnässt ist!
Mit dem Kopf durch die Wand, solange wir noch können, körperlich! So lange mit dem Kopf durch die Wand wollen, Josef, bis man mit dem Kopf tatsächlich durch die Wand ist, selbst wenn dabei die ganze Wand zusammenbricht und der Kopf zerbricht! Und dann ist man hinter der Wand, und hinter der Wand ist nichts. Gar nichts. Überhaupt nichts. Nur Kopfschmerzen. Aber gerade deswegen hat es sein müssen. Es kann natürlich auch sein, dass die Wand stehen bleibt, nachdem man mit dem Kopf durch die Wand gekommen ist, und dann steckt man mit dem Hals in der Wand, sodass auf der einen Seite nur der Kopf, auf der anderen Seite nur der Rumpf und der restliche Körper, die zappelnden Gliedmaßen und vor allem das Hinterteil zu sehen sind. Der Kopf wirkt dann wie eine Trophäe, aber das heißt eben: erlegt, ausgestopft und präpariert. Ein paar Tage vor der Premiere bin ich mit Philipp in einem Restaurant gesessen, wo ein solcher Hirschkopf mit gigantischem Geweih aus der Wand ragte. Jan Philipp ist als Erstes in den Nebenraum gegangen, denn er wollte unbedingt auch das Hirschenhinterteil sehen.«
Settembrini lässt sich in seinem Redeschwall nicht bremsen, auch jetzt nicht, da ihn die beiden Bühnenarbeiter auf der Bahre liegend hochheben und hinter die Bühne tragen. Bevor sie endgültig abgehen, passieren sie einen großen Spiegel. Settembrini bittet sie um einen Moment des Innehaltens und der Geduld, mustert sich vor dem Spiegel und bringt seine Leidensmiene auf den letzten Stand: »Gut, also, wir sind so weit! Nach oben, meine Herren! Zur Preisverleihung bitte!«
7
A n einem Sonntag an den Iden des März ist deine junge Familie bei deinen Eltern zum Essen eingeladen. Die Mutter steht in der Küche und bereitet ein Paprikahuhn mit Spätzle zu. In einer halben Stunde wird sie fertig sein. Solange sitzt ihr, Emma und du, vor dem Haus und sonnt euch. Es ist ein verheißungsvoller Vorfrühlingstag. Man kann den Schneehaufen beim Schmelzen zusehen.
Während des Essens wird es wieder um das bestimmende Thema der letzten Monate gehen: eure mögliche Rückübersiedlung in dieses Elternhaus. Das Haus wäre groß genug für alle. Man könnte im Parterre eine Wohnung für die junge Familie einrichten. Die Eltern würden sich in den ersten Stock zurückziehen. Du müsstest die Miete nicht länger einem Fremden in den Rachen schieben, wie deine Mutter das formuliert, sondern könntest sie zu Hause abliefern und so deinen Eltern helfen, ihre Schulden zu bezahlen, solange bis die Bank wieder aus dem Grundbuch gestrichen ist. Bei der Gelegenheit müsstest du auch gleich die Bürgschaft unterschreiben: So schaut der Ernst des Lebens nun einmal aus. Du hast die Miete aber ganz gern einem Fremden in den Rachen geschoben. Es fällt leichter, einen Fremden darauf hinzuweisen, dass in der Wohnung etwas auf
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