Absturz
funktionieren? Der Vater faltet die Hände wie ein Kind, das bittet, und bittet und bettelt und kann nicht sagen worum. Die Hölle ist hier und jetzt, er rollt die Augen. Die Augen sind noch ganz. Die Seele ist noch ganz. Die Seele ist unzerstörbar, aber die Seele ist ohne Sinnesorgane. Die nackte Verzweiflung steht Papa ins Gesicht geschrieben, dass man ihn nicht und nicht versteht, nicht verstehen will , dass man ganz einfach nicht tut, was er sagt. Banausen. Gesindel. Dumm geboren, nichts dazugelernt und das noch vergessen. Der Vater will bei seiner Frau sein, nicht hier. Bei seinen Söhnen, nicht hier. Der Vater will leben. Und außerdem eine Pall Mall . Jetzt! Jetzt! Jetzt! Habe ich mich nicht deutlich genug ausgedrückt? Der Sohn soll ihm eine Pall Mall geben. Der Arzt soll ihm Feuer geben. »Ein Nikotinpflaster so knapp nach einem Infarkt ist unrealistisch«, sagt der Turnusarzt. Dummer Bub, studierter! Wie kommt er hier nur weg?
Dann ist Papa nicht mehr verzweifelt. Dann sagt Papa gar nichts mehr. Kein Artikulationsversuch mehr. Die Ruinen sind in sich zusammengebrochen. Es raucht nur noch heraus. Die letzten Reste seiner Sprache sind verpufft. Er ist befriedet. Nur noch fürchterliches, tierisches Röcheln, wenn der Pfleger dem Vater den Schleim aus Hals und Rachen absaugt. »Das muss sein«, sagt der Pfleger der entsetzten Gattin, »sonst erstickt er. Er kann jetzt selber nicht mehr schlucken.« Ein demoliertes Jammern, ein qualvolles Stöhnen mit verzogenem Gesicht und schreckstarren Augen. Jetzt kommt niemand mehr an Papa heran, kein Angehöriger und kein Experte. Dein Schöpfer ist verwandelt in ein waidwundes Tier. Der dich mit Wohlgefallen gesehen hat, der, der dir leerem Behältnis eingetrichtert hat, was für ein Besonderer du auf der Welt bist, der dreht sich weg ins ewige Nichts. Der, um den du so viele Jahre gezittert hast, ist fast schon verwandelt in Verwesung. Der Hinterkopf, der im Kellertheater gewackelt hat. Auf Phasen der Unruhe folgen Phasen der Ruhe, auf Phasen der Resignation und Selbstaufgabe Phasen des Aufbegehrens. Ein wilder, aussichtsloser Kampf gegen die Fesseln und die Schläuche. Der Rücken des Kämpfers ist aufgescheuert, darauf reagiert der Fortschritt mit einer neuen Antiaufscheuermatratze, vergelt’s Gott. Der Neurochirurg hat ein Gesicht aus Aluminium, der Oberarzt hat ein Gesicht aus Stahl. Der Neurochirurg muss gleich wieder weg, der Oberarzt sagt deiner Mutter: »Sie wissen ja, wie es um Ihren Mann steht. Es ist ernst, und es müsste ein Wunder geschehen.« Im großen Rahmen des großen Fortschritts, sagt er, sonst kann er nicht viel sagen, und sonst kann er nicht viel tun. Mächtiger Moderator der Machtlosigkeit. Dann fährt der Oberarzt auf ein Seminar und erklärt den Fall einem Assistenzarzt. Wenn er in zwei Tagen von seinem Seminar zurückkommt, wird sich der Fall erledigt haben, denkt er. Als der Oberarzt zwei Tage später vom Seminar zurückkehrt, ist er sehr erstaunt, dass sich der Fall im Isolierzimmer noch nicht erledigt hat. Papa röchelt noch. Aber weiß er noch, dass er röchelt? Papa windet sich. Aber weiß er, dass er sich windet? Spürt er? Fühlt er? Papa schaut noch. Aber sieht er? Was für ein Wesen ist Papa jetzt? Man kann in den Vater nicht hineinschauen, und man kann nicht sehen, ob er aus sich herausschauen kann. Der Vater horcht nicht mehr. Aber hört er? Wer weiß? Er kann nichts sagen. Niemand kann etwas sagen. Papa atmet schwer und unregelmäßig. Papa wird künstlich beatmet, künstlich ernährt, künstlich entleert. Wenn das eine Auge aufgeht, geht das andere zu. Ohne erkennbare Absicht hält der Vater die Hand vors offene Auge und die Partie, wo vielleicht Gehirn ist. Dann fächert er seine Finger auf wie ein Magier. Geht das linke Auge auf, geht das rechte wieder zu. Sein ganzer Leib sich selbst überlassene Willkür. Wenn dem Vater die Plage zu groß wird, gähnt er und dreht sich weg, als ob nichts wäre.
Am anderen Tag schaut Papa auch nicht mehr. Mit glasigen Augen starrt er zum Plafond hinauf wie aus einer Welt in die andere. Du siehst die Augen des Vaters wie durch ein schmutziges Fenster, und du findest niemanden im Inneren des Zimmers. Dann tränen auch deine Augen. Deine Mutter steht dabei, tagein, tagaus, selbst nur noch Erschöpfung und Angst und blass und bleich, und sie lässt sich nicht abwimmeln, weder von Pflegern noch von Ärzten. Man darf die Hoffnung nicht aufgeben. Deine Mutter steht zwischen den Welten
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